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Mit den Sternen nächtlich im Gespräch
„Mit den Sternen nächtlich im Gespräch …“ Moderne japanische Haiku übersetzt von Oskar Benl, Géza S. Dombrády und Roland Schneider herausgegeben von Elisabeth Schneider und Jörg B. Quenzer Reihe Phönixfeder 8 OSTASIEN Verlag Der Druck erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Komatsu-Stiftung. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN: 1868-4866 ISBN: 978-3-940527-29-5 © 2011. OSTASIEN Verlag, Gossenberg (www.ostasien-verlag.de) 1. Auflage. Alle Rechte vorbehalten Redaktion, Satz und Umschlaggestaltung: Martin Hanke und Dorothee Schaab-Hanke Druck und Bindung: Rosch-Buch Druckerei GmbH, Scheßlitz Printed in Germany Inhalt Vorwort Einführung xi xiii Die Gedichte Abe Midorijo (1886–1980) 阿部みどり女 Akimoto Fujio (1901–1977) 秋元不死男 Akiyama Shûkôryô (1885–1966) 秋山秋紅蓼 Akutagawa Ryûnosuke (1892–1927) 芥川龍之介 Anzai Ôkaishi (1886–1953) 安齋櫻磈子 Awano Seiho (1899–1992) 阿波野靑畝 Furusawa Taiho (1913–2000) 古澤太穂 Hara Sekitei (1886–1951) 原石鼎 Hashimoto Mudô (1903–1974) 橋本夢道 Hashimoto Takako (1899–1963) 橋本多佳子 Hino Sôjô (1901–1956) 日野草城 Hirahata Seitô (1905–1997) 平畑靜塔 Hoshino Bakujin (1877–1965) 星野麥人 Hoshino Tatsuko (1903–1984) 星野立子 Hosomi Ayako (1907–1997) 細見綾子 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 24 28 30 32 34 v Hosoya Genji (1906–1970) 細谷源二 Iida Dakotsu (1885–1962) 飯田蛇笏 Iida Ryûta (1920–2007) 飯田龍太 Ikenouchi Tomojirô (1906–1991) 池内友次郎 Ishibashi Hideno (1909–1947) 石橋秀野 Ishida Hakyô (1913–1969) 石田波郷 Ishikawa Keirô (1909–1975) 石川桂郎 Ishizuka Tomoji (1906–1986) 石塚友二 Itami Mikihiko (1920– ) 伊丹三樹彦 Kaneko Tôta (1919– ) 金子兜太 Katô Chiyoko (1909–1986) 加藤知世子 Katô Shûson (1905–1993) 加藤楸邨 Katsura Nobuko (1914–2004) 桂信子 Kawabata Bôsha (1897–1941) 川端茅舍 Kawahigashi Hekigotô (1873–1937) 河東碧梧桐 Kishi Fûsanrô (1910–1982) 岸風三樓 Kôzai Teruo (1917–1987) 香西照雄 Kubota Mantarô (1889–1963) 久保田万太郎 vi 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 62 66 68 70 72 74 Kuribayashi Issekiro (1894–1961) 栗林一石路 Kyôgoku Kiyô (1908–1981) 京極杞陽 Maeda Fura (1884–1954) 前田普羅 Masaoka Shiki (1867–1902) 正岡子規 Matsumoto Takashi (1906–1956) 松本たかし Matsune Tôyôjô (1878–1964) 松根東洋城 Matsuse Seisei (1869–1937) 松瀨西靑々 Mitsuhashi Takajo (1899–1972) 三橋鷹女 Mizuhara Shûôshi (1892–1981) 水原秋櫻子 Murakami Kijô (1865–1938) 村上鬼城 Nagata Kôi (1900–1997) 永田耕衣 Naitô Meisetsu (1847–1926) 内藤鳴雪 Nakajima Takeo (1908–1988) 中島斌雄 Nakamura Kusatao (1901–1983) 中村草田男 Nakamura Teijo (1900–1988) 中村汀女 Nakatsuka Ippekirô (1887–1946) 中塚一碧樓 Natsume Sôseki (1867–1916) 夏目漱石 Nozawa Setsuko (1920–1995) 野澤節子 76 78 80 82 86 88 90 92 94 98 100 102 104 106 110 112 114 118 vii Ogiwara Seisensui (1884–1976) 荻原井泉水 Oikawa Tei (1899–1993) 及川貞 Ôno Rinka (1904–1982) 大野林火 Ôsuga Otsuji (1881–1920) 大須賀乙字 Ozaki Hôsai (1885–1926) 尾崎放哉 Saitô Sanki (1900–1962) 西東三鬼 Satô Onifusa (1919–2002) 佐藤鬼房 Sawaki Kin'ichi (1919–2001) 澤木欣一 Shimada Seihô (1882–1944) 島田靑峰 Shinohara Bon (1910–1975) 篠原梵 Sugita Hisajo (1890–1946) 杉田久女 Suzuki Murio (1919–2004) 鈴木六林 Takahama Kyoshi (1874–1959) 高濱虛子 Takahashi Awajijo (1890–1955) 高橋淡路女 Takaya Sôshû (1910–1999) 高屋窓秋 Takayanagi Jûshin (1923–1983) 高柳重信 Takeshita Shizunojo (1887–1951) 竹下しづの女 Taneda Santôka (1882–1940) 種田山頭火 viii 120 124 126 130 132 136 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 Tôgo Sayû (1908–1991) 藤後左右 Tomita Moppo (1897–1923) 富田木歩 Tomiyasu Fûsei (1885–1979) 富安風生 Tomizawa Kakio (1902–1962) 富澤赤黄男 Tsuda Kiyoko (1920– ) 津田淸子 Ueno Yasushi (1918–1973) 上野泰 Usuda Arô (1879–1951) 臼田亞浪 Watanabe Suiha (1882–1946) 渡邊水巴 Yamaguchi Hatsujo (1906–1985) 山口波津女 Yamaguchi Seishi (1901–1994) 山口誓子 Yamaguchi Seison (1892–1988) 山口靑邨 Yoshioka Zenjidô (1889–1961) 吉岡禪寺洞 Überblick über die erwähnten Haiku-Zeitschriften Biographien der Übersetzer 166 168 170 174 178 180 182 184 186 188 190 192 197 199 ix Vorwort Im Zeitraum von der Mitte bis zum Ende der 1970er Jahre entstand diese Sammlung moderner Haiku, ein in Leichtigkeit und mit großem Vergnügen betriebenes, in liebevollem Spott als „Gedicht-Kränzchen“ bezeichnetes Herzensanliegen dreier Japanologen, die sich über ihre Leidenschaft für japanische Kultur hinaus durch ihre gemeinsame Hamburger Zeit freundschaftlich sehr verbunden fühlten: Oscar Benl, Géza S. Dombrády und Roland Schneider. Die von ihnen zusammengetragenen japanischen Gedichte wurden zumeist im Hause Benl in kleiner Privatrunde diskutiert und sortiert. Erkennbar für dieses Unterfangen waren zwei Gründe: zum einen der Unmut über das Haiku-Bild im deutschsprachigen Raum als exotischer Gedichtform mit pathetischem Anstrich, welche sich auf die Verherrlichung der Natur beschränkt, zum anderen der Wunsch, diesem Klischee mit einer Auswahl aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entgegenzutreten, die im Haiku eine lebendige Alltagslyrik Japans erkennen lässt, in seiner Entwicklung hin zu einer thematischen Vielfalt, die nahezu jeden Aspekt des täglichen Lebens zulässt. Ein beträchtlicher Teil der zunächst ins Auge gefassten Gedichte wurde in der Diskussion damals als thematisch „zu abgedroschen“ verworfen. Die Besonderheit der aufgenommenen Gedichte, ihr repräsentativer und doch auch origineller Charakter, eröffnet den liebenswertskurrilen Blick des Haiku auf die kleinen Dinge des Alltags, Aufmerksamkeit für den besonderen Charme des Details. Doch blieb die Suche nach dem Bemerkenswerten immer auch eine Gratwanderung, hielt Originelles nicht immer den Anforderungen an Ausdrucksstärke und Verständlichkeit für den Leser stand. Letztere sollte durch biographische Angaben zu den Haiku-Dichtern nach Möglichkeit erleichtert werden. Ein gewisses Maß an Unvollständigkeit wurde in Kauf genommen und dem Ziel der Präsentation einer bislang im Deutschen nicht zugänglichen Haiku-Vielfalt untergeordnet. Von Anfang an war geplant, diese Sammlung von Haiku zu veröffentlichen. Ein maßgeblicher Grund für das frühere Scheitern entsprechender Bemühungen ruft inzwischen schon fast museales Staunen hervor: Zum damaligen Zeitpunkt – ohne PC-Unterstützung – erschien es höchst problematisch, die Anschriften von rund 80 Haiku-Dichtern bzw. die ihrer Hinterbliebenen ausfindig zu machen, um ihre Zustimmung zur Publikation einzuholen. Neben zahlxi reichen leichter durchführbaren Projekten geriet das „Kränzchen“ nach und nach aus dem Blick. Doch auch über 30 Jahre nach der Erstellung dieser Haiku-Sammlung ist die Zahl der ins Deutsche übersetzten japanischen Haiku aus dem 20. Jahrhundert noch so gering, daß die vorliegende Anthologie wesentliche und neue Einblicke ermöglicht und ihre Veröffentlichung unverändert wünschenswert erscheint, zumal das Interesse an dieser Gedichtform – auch durch das inzwischen eigenständige deutschsprachige Haiku – beeindruckend zugenommen hat. Die Realisierung dieses alten Vorhabens ist für mich persönlich ein Zeichen des Dankes an die drei Sucher und Übersetzer für ihre unschätzbare Einführung in die Welt der japanischen Lyrik. Bei der Vorbereitung dieser Publikation habe ich in vielfältiger Weise Unterstützung erfahren. Besonderer Dank gebührt Professor Dr. Jörg Quenzer, der das Anliegen der Übersetzer zu seinem eigenen machte und die ausgewählten Gedichte mit einer Einleitung versah, welche dem Leser ein tieferes Verständnis ermöglicht; der Gendai Haiku Kyôkai (Modern Haiku Association) in Tôkyô, vor allem Herrn Kimura Toshio für wertvolle Hinweise und Hilfe bei der mühsamen Einholung der Autorenrechte; Professor Nishi Masaru für seinen aufopferungsvollen Einsatz als Vermittler; Herrn Yamamori Takeshi für seine wunderbaren Kalligraphien und seine große Hilfe bei der Kontaktierung der Autoren; den Verlegern für ihre unkonventionelle, geduldige Betreuung und ihre unermüdlichen Ratschläge; und schließlich all denen, die mich bei der Arbeit an diesem für mich so bedeutsamen Anliegen in herzlicher Verbundenheit gefördert und begleitet haben. Hamburg, im September 2011 Elisabeth Schneider xii Einführung Das Haiku und der Westen Das japanische Kurzgedicht zu 17 Silben1, heute unter der Bezeichnung Haiku bekannt, gehört zu den erfolgreichsten Kulturexporten Japans. Große Namen aus der Tradition – allen voran der eigentliche Begründer dieser Dichtkunst, Matsuo Bashô (1644–1694) – sind durch Übersetzungen mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum einer literarischen Öffentlichkeit vertraut und haben Aufnahme in Literaturlexika und andere Darstellungen gefunden. Und auch außerhalb Japans hat das moderne Haiku eine große Gefolgschaft, Individuen wie Dichterzirkel, die mit dem Verfassen von Haiku zuweilen weit mehr als nur ein ästhetisches Vergnügen oder eine literarische Herausforderung verbinden. Übersehen wird dabei gerne, daß das Haiku selbst eine lange Entwicklungsgeschichte hat. Alleine bis sich der sogenannte „Erstvers“ (hokku) der mittelalterlichen Kettendichtung als eigenständiges Genre etablieren konnte, vergingen Jahrhunderte. Jeder der großen Meister des klassischen Haiku zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert, der bereits erwähnte Matsuo Bashô, Yosa Buson (1716–1783) und Kobayashi Issa (1763–1827), beeinflußte die weitere Entwicklung durch eine, bei Bashô sogar durch mehrere grundlegende Stilprägungen. Epochal einschneidend ist auch die Reaktion des Haiku auf die rasante Modernisierung von Sprache und Gesellschaft in Japan am Ende des 19. und zu Beginn des 20. 1 Die formal korrekte Bezeichnung für die Lauteinheit, die der Struktur des Haiku zugrunde liegt, ist More und nicht Silbe. Dabei handelt es sich nicht um eine lautlich eindeutig abgeschlossene Folge, sondern um die kleinste Zeiteinheit im Japanischen. Eine Silbe kann daher in einer Reihe von Fällen auch aus zwei Moren bestehen. Jahrhunderts, eine Entwicklung, die zumeist mit dem Namen Masaoka Shiki (s.u.) verbunden wird. Und schließlich ist die weltweite Verbreitung nach dem Zweiten Weltkrieg zu nennen, etwa die Etablierung eines „internationalen“ Haiku jenseits der japanischen Sprachgesetze, weiterhin die zahlreichen Anregungen, die für das moderne Gedicht in Europa oder Amerika von der Begegnung mit dem Haiku ausgingen – beispielhaft lassen sich hier nennen Ezra Pound, Giuseppe Ungaretti, Günter Eich oder Jannis Ritsos. Diese Vielfalt und Dynamik der „kleinsten poetischen Gattung der Welt“, wie das Haiku oft bezeichnet wird, spiegelt sich in der westlichen Rezeption bislang nur wenig wider. Unterschiedslos finden sich in den Anthologien und einschlägigen Sammelwerken Beispiele von Bashô oder Buson neben und zwischen denen von Masaoka Shiki oder aktueller Autorinnen und Autoren. Auch der „Ton“ der Übersetzungen läßt unterschiedliche Autorenstile und Eigenheiten im Wortgebrauch einzelner Epochen allenfalls erahnen. Und noch bei der Diskussion der poetologischen Grundlagen – etwa das Regelwerk wie Jahreszeitenworte, Silbenzahl oder innere Struktur des Gedichts – werden Argumente aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Schulen ohne weitere Differenzierung präsentiert. Mit der Konzentration auf die entscheidende Phase der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich das moderne Haiku erstmals auch als breite „Gemeinkunst“ in Japan etablieren konnte, schließen die hier vorgestellten Gedichte eine große Lücke in der Darstellung. Die ausgewählten Gedichte lassen zugleich erahnen, mit welcher Begeistexiii rung die neuen Freiheiten des Dichtens, sowohl die größere thematische Breite, als auch die Möglichkeit, die Gegenwartssprache zu verwenden, aufgegriffen wurden. Um diese Neuerungen angemessen würdigen zu können, ist jedoch zunächst ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieser Form erforderlich. Das traditionelle Haiku Das klassische Haiku von Bashô und seinen Schülern hat seine Wurzeln in der mittelalterlichen Kettendichtung. Diese mehr oder minder raffinierte Reihung von Versen zu abwechselnd 17 und 14 Silben hatte zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Tendenz zum (Wort-)Spielerischen, ja zur Wortartistik erhalten, dabei neues Vokabular und neue Themen aufgenommen. Bashô verband kongenial beide Traditionen – das Stilmittel der Pointe oder der unvorhergesehenen, witzigen Wendung mit einem außerordentlich breiten Wissen um die literarische Tradition, insbesondere das ältere höfische Kurzgedicht (waka) und die Kettendichtung selbst. Zugleich forderte er eine Einstellung des Dichters, die erneut an ein mittelalterliches Verständnis anschloß: Dichten als semi-religiöse Haltung, als Lebensweise – als ein Erkenntnisweg, der über das literarische Handwerk oder das Vertrautsein mit dem Kanon hinausgeht. Dabei bezog er sich vor allem auf zwei geistesgeschichtliche Traditionen, die er für seine poetischen Bemühungen fruchtbar machte: den Buddhismus und daoistische Vorstellungen. Eine Reihe von Merkmalen, wie sie für die Gedichte der Bashô-Schule (shômon) typisch sind, findet man bis heute in zahlreichen Abhandlungen oder im Selbstverständnis der Dichter. Zumeist lassen sich traditionelle Haiku-Gedichte als – überraschende, unerwartete, neuartige – Verbindung zweier Sphären charakterisieren. Bashô realisierte dies vielfach als Verbindung unterschiedlicher Elemente: Anleihen aus der literarischen Tradition, erkennbar durch einen spezifischen Wortschatz und eine besondere Grammatik, stellte er sprachliche Wendungen oder Phänomene aus dem Allxiv tagsleben gegenüber. Die Trennungen zwischen diesen Elementen verlaufen zumeist an einem der beiden rhythmischen Einschnitte in der Gliederung von 5/7/5 Silben. Im traditionellen Haiku wurden derartige Einschnitte nicht nur durch den Wortschatz, sondern zudem durch den Gebrauch spezieller Sprachmarkierungen (sogenannter „Trennsilben“, kireji), ausgewiesen. Die Auswahl der poetischen Themen oder Bilder orientierte sich bevorzugt an der Stimmung („Atmosphäre“) einer Szene. Ein Regelelement, das selbst in der modernen Tradition erst sehr spät in Frage gestellt wurde, ist die Zuordnung eines Gedichts im Reigen der Jahreszeiten. Diese Regel erfordert die Verwendung festgelegter (Natur-)Phänomene, als „Jahreszeitenwort“ (kigo) bezeichnet, die zum Grundwissen einer Dichterin oder eines Dichters gehörten beziehungsweise in zum Teil umfangreichen Nachschlagewerken festgehalten wurden. Neben der Dimension der Zeit kam auch dem Raum zusätzliche Bedeutung zu: Unmittelbarer oder mittelbarer (Entstehungs-)Hintergrund eines Gedichts konnten historisch oder literarisch wichtige Orte sein; zum Teil waren sie bereits alten Datums, zum Teil bekamen sie erst durch Bashôs zahlreiche literarische Reisebeschreibungen einen hohen Stellenwert in der Rezeption. Haiku-Dichtung in der damaligen Zeit war immer auch Teil literarischer Kommunikation: Im freundschaftlichen Austausch wurden Gedichte kalligraphisch gestaltet und weitergegeben. Die zusätzliche Komponente der visuellen Verteilung der Schriftzeichen auf einem Blatt Papier, gegebenenfalls mit einer kleinen Skizze oder einem Tuschbild versehen, bot den Dichter-Kalligraphen große Freiheiten, die verschiedenen Textteile in ein schöpferisches Spannungsverhältnis zu setzen und damit unterschiedliche Interpretationen zu suggerieren. Sämtliche der genannten Merkmale erforderten für den richtigen „Genuß“ eines Gedichts ein hohes Maß an Vertrautsein – mit dem Genre selbst, seinen Regeln und seinen Vorbildgedichten, darüber hinaus aber auch mit den kanonischen Werken aus der klassischen Literatur in Japan und China, derer sich die Dichter oft mit Anspielungen bedienten. Entsprechend überschaubar war auch die Zahl derjenigen, die diese Kunst pflegte. Die Entstehung des modernen Haiku Das moderne Haiku, dem – mit kleineren Abstrichen – alle in dieser Sammlung vertretenen Dichterinnen und Dichter verbunden sind, läßt sich, ebenso wie die oben skizzierte Etablierung des Genres, auf das Wirken vornehmlich einer Persönlichkeit zurückverfolgen, des Dichters und Kritikers Masaoka Shiki (1867–1902). Hintergrund seiner Pionierleistung ist der ungeheure Modernisierungsprozeß, den Japan ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, nach gut 200 Jahren der Abgeschlossenheit, durchlief; ein Prozeß, der nicht nur politische und soziale Umwälzungen mit sich brachte, sondern neben den intensiven Kontakten mit der westlichen Kultur auch eine radikale Änderung der Sprache. In der Literatur bedeutete dies vor allem das erfolgreiche Bemühen, die bis dahin übliche Trennung zwischen Schrift- und Umgangssprache zu überwinden. Auf Masaoka Shiki geht die Prägung der heute geläufigen Bezeichnung „Haiku“ zurück, die den traditionelleren Begriff des „Erstverses“ (hokku) ablösen sollte. Er wirkte sowohl als Dichter wie als Kritiker und Herausgeber. Eine solche Doppelrolle war nicht neu, auch von Bashô haben sich viele Kommentare zu Gedichten seiner Schülerschaft erhalten, auch Bashô lenkte seine Schule durch die Aufnahme (oder Ablehnung) von Gedichten anderer. Modern ist jedoch der Ort der Kritik: Zeitschriftenkolumnen, Aufsatzsammlungen und andere Publikationen – damit erreichten derartige Äußerungen ein sehr viel breiteres Publikum, wurden in ganz Japan gelesen und diskutiert. Angeregt durch den kulturellen Import aus Europa vertrat Shiki dabei einen impressionistischen Realismus (shasei), der die visuellen Qualitäten des Haiku betonte und dabei zugleich an Prinzipien der (westlichen) Malerei anzuknüpfen versuchte. Zwei Schüler und Mitarbeiter von Shiki waren bestimmend für die folgenden Jahrzehnte: Kawahigashi Hekigotô xv (1873–1937) und Takahama Kyoshi (1874–1959); beide stammten wie ihr Lehrer aus der Stadt Matsuyama. Letzterer entwickelte sich als Herausgeber der einflußreichen Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“) zum konservativen Antipoden aller Erneuerungsbestrebungen, seine Schule sollte allein nach Zahlen die nachfolgenden Jahrzehnte dominieren. Viele zeitgenössische Dichtergruppen gewannen ihr eigenes Profil zunächst in der Auseinandersetzung mit Kyoshi und seiner Betonung traditioneller Formen, insbesondere seinem Beharren auf „Blümchen-undVögelchen“-Themen (kachô fûei, freier: „Naturschilderungen“), der leitenden Ideologie des Hototogisu. Auch Hekigotô entwickelte den Stil seines Lehrers Shiki weiter, allerdings mit entgegengesetzter Tendenz. Unter dem Slogan „Haiku im Neuen Stil“ (Shinkeikô haiku) setzte er sich vom visuellen Realismus Shikis ab und propagierte eine stärkere Nähe zur Lebenswirklichkeit. Sein eigener Schüler Ogiwara Seisensui (1884–1976) wiederum propagierte die Überwindung der festen Silbenform von 5/7/5 Moren und pries stattdessen die poetischen Möglichkeiten des „freien Rhythmus“ (jiyûritsu), den in der Folge viele Dichter aufgriffen. Eine andere Entwicklung, die ebenfalls als Sezession von Hototogisu begann, ist die „Neue Haiku-Bewegung“ (Shinkô haiku), eine Sammelbezeichnung für neue Tendenzen im Haiku seit 1931, angestoßen durch Mizuhara Shûôshi (1892– 1981) und Yamaguchi Seishi (1901–1994). Andere Mitglieder dieser Bewegung gingen sogar soweit, den Verzicht auf das Jahreszeitenwort zu fordern. Mit dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen Japans in China 1937 wurde, u.a. unter dem Einfluß von Yamaguchi Seishi, erstmals auch das Thema des Krieges aufgegriffen, was zur Überwachung dieser Dichter durch die politische Polizei führte. Politisch deutlicher positioniert waren bereits in den 20er und 30er Jahren einige Haiku-Gruppen und ihre Zeitschriften, die der breiten Strömung der „Proletarischen Literatur“ nahestanden. Viele ihrer Mitglieder, etwa eine Dichtergruppe, die sich an der Universität Kyôto gebildet hatte (Kyôdai haiku), wurden in zwei Wellen 1940 und 1941 verhaftet (sog. Shinkô haiku dan'atsu jiken). Ihre Publikationsorgane wurden verboten, einige Dichter starben in Haft oder mittelbar an deren Folgen. Viele der Verfolgten gehören in der Nachkriegszeit zu den wichtigen Exponenten des zeitgenössischen Haiku. Themen und Institutionen Das moderne Haiku öffnet sich in den vergangenen 100 Jahren neben den klassischen Motiven aus dem Bereich Naturphänomene und Landschaft einer ganzen Reihe von neuen Themenfeldern. Zum Teil werden sie bereits als eigene „Genres“ in Abhandlungen oder Lexika aufgeführt oder als Charakterisierung von einzelnen Dichtern oder Anthologien verwendet. Vielfach lassen sie sich als (Neu-)Entdeckung der eigenen Lebenswelt beschreiben: Arbeitswelt und Freizeit bis hin zum Sport, weiterhin die zwischenmenschlichen Beziehungen in allen Facetten – mit wenigen Ausnahmen xvi undenkbar für einen Dichter der klassischen Zeit, dies als Ausdruck der eigenen Biographie zu tun, wie es mittlerweile selbstverständlich geschieht! Damit verbunden ist die Kategorie der sogenannten „Küchen-Gedichte“, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte, d.h. das Thema Familie und Alltagsleben aus der Sicht der Hausfrau – ein Novum auch insofern, als Frauen in der traditionellen HaikuGesellschaft nur selten die Teilnahme erlaubt gewesen war. Ein weiteres Thema, das viele Anthologien durchzieht, ist die Erfahrung der Krankheit. Mangelernährung und damit ver- bundene Krankheiten, insbesondere Tuberkulose, trafen viele Literaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hinzu kamen Erfahrungen wie Krieg oder Gefängnis – auch hier beeindruckt die Offenheit, zum Teil Schonungslosigkeit, mit der das eigene Leiden oder der körperliche Verfall beschrieben und zugleich in einen ästhetischen Erfahrungszusammenhang gestellt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg weiteten sich die vielfältigen Aktivitäten in Form zahlreicher großer und kleiner Zeitschriften oder institutionalisierter Gruppierungen aus. Viele Haiku-Vereinigungen treffen sich lokal, regional und national in regelmäßigen Abständen, daneben existiert eine große Anzahl von unabhängigen Haiku-Zirkeln (kukai). Haiku-Dichten, auch das gehört zum modernen Haiku, beschränkt sich endgültig nicht mehr auf Literaten oder Bevölkerungsgruppen der Bildungsschicht, sondern ist zu einer poetischen Form der breiteren Bevölkerung geworden, an der sich Schüler ebenso versuchen wie Seniorenclubs, einfache Angestellte wie Kulturträger, ein Genre, das in der Werbung ebenso Verwendung finden kann wie beim geselligen Beisammensein. Ein wichtiger Grund für die Popularität des Genres ist – neben der sprachlichen Erneuerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts – darin zu sehen, daß sich das moderne Haiku rasch neuer Medienformen bediente und bedient. Seit Masaoka Shiki haben große Tageszeitungen regelmäßige Haiku-Kolumnen, in denen Einsendungen der Leserschaft veröffentlicht und besprochen werden; zu Beginn des 21. Jahrhunderts organisieren sich viele Haiku-Zirkel parallel dazu auch im Internet. Wichtigstes Organ der verschiedenen Dichterkreise und -gruppen im 20. Jahrhundert waren jedoch die institutionellen Zeitschriften (vgl. die Auswahlliste im Anhang). Die Aufnahme eingereichter Gedichte in ein solches Organ konnte einer Aufnahme in den engeren Kreis einer Dichtergruppe gleichkommen; umgekehrt läßt sich der Wechsel zu einer anderen Zeitschrift oder gar eine Neugründung auch mit einer thematischen oder stilistischen Neuausrichtung erklären. Ein weiteres modernes Mittel der Organisation und Verbreitung sind allgemein zugängliche Preisausschreiben. Die kritische Bewertung von Gedichten ist so alt wie das Genre selbst, viele Haiku-Meister der Vormoderne fanden ein Auskommen u.a. im Beruf des Beurteilens (tenja) von Gedichten. Neu ist die mediale Breite: Fast sämtliche große Haiku-Vereinigungen oder Verlagsgruppen loben regelmäßig Preise aus, die das beste Gedicht oder die besten Gedichte, zuweilen zu vorgebenen Themen, auszeichnen. Namenspatrone können berühmte Haiku-Dichter der Vergangenheit sein, aber auch historische Anlässe, etwa die Erinnerung an die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, oder profaner eine Blutspendeaktion des Japanischen Roten Kreuzes. Und schließlich hat eine Reihe von landesweit aktiven Firmen die Ausschreibung von Haiku-Preisen als Teil des kulturellen Marketings entdeckt. xvii Zu dieser Ausgabe Die Auswahl der Gedichte und ihre Anordnung geht auf die drei Übersetzer zurück. Auch die biographischen Kurzangaben zu Beginn jedes Eintrags, die in ihrer knappen Pointierung vielfach den Blick auf wichtige biographische Themen der Zeit lenken, stammen im wesentlichen von ihnen. Der Mitherausgeber hat in das hinterlassene Textkonvolut behutsam eingegriffen, wo er mit gutem Grund vermuten konnte, daß die Übersetzer an dieser Stelle ebenfalls noch einmal angesetzt hätten – weil ein Begriff oder ein Bild noch unklar, eine Lesung nochmals zu eruieren waren. Übersetzen von Lyrik ist immer auch Interpretation. Die Kunst des Übersetzens wird beim Haiku aber nicht allein durch die äußerst knappe Form herausgefordert, sondern überdies durch die Spannung zwischen der Präzision jedes einzelnen Wortes und der Mehrdeutigkeit, der Vielfalt der Assoziationen, die zwischen den einzelnen Worten und den Gedichtteilen entstehen können. Hier auch in der Zielsprache die Waage zu halten zwischen genauer Wortwahl und poetischem Mehrwert, ist eine ganz eigene Aufgabe, die großes sprachliches Wissen im Japanischen, überdies auch eine besondere Feinfühligkeit im Deutschen verlangt. Für den Mitherausgeber bedeuteten diese Herausforderungen jedoch zugleich: Wenn die Textvorlage der drei Übersetzer einer eher eigenwilligen, aber durchaus denkbaren Interpretation folgte, wurde sie beibehalten, auch wenn andere Aspekte oder Deutungen des Gedichts dadurch in den Hintergrund geraten. Für viele der hier übersetzten Gedichte ist eine Tendenz zum freien Umgang mit den traditionellen Formvorgaben, insbesondere der Silbenstruktur von 5/7/5, bezeichnend. Das bringt das Problem der Wiedergabe der Zeilentrennung mit sich. Hier wurde pragmatisch vorgegangen: So weit möglich, wurde die rhythmische Dreiheit, die der xviii ursprünglichen Haiku-Form zugrundeliegt, durch eine Verteilung der Umschrift des Gedichttextes auf drei Zeilen zu entsprechen versucht. Das Ergebnis ist nicht immer befriedigend; sprachspielerische Trennungen innerhalb eines Wortes etwa, die für den Muttersprachler wahrnehmbar sind, ließen sich nicht reproduzieren. Die Wiedergabe der Originale auf der linken Seite folgt den jeweiligen Anthologien, denen die Übersetzer sie entnommen haben (vgl. das Literaturverzeichnis). Da diese Sammlungen selbst auf der Grundlage sehr unterschiedlicher Konventionen entstanden und sich unterschiedlicher Quellen bedienten, führt dies zu einem inkonsequenten Gebrauch von Schriftvarianten der chinesischen Zeichen (Kanji) oder der japanischen Silbenschriften (Kana). Es erschien jedoch wenig sinnvoll, diese Unterschiede im nachhinein zu vereinheitlichen, haben die Dichterinnen und Dichter ihre Werke doch selbst im Spannungsfeld unterschiedlicher Verschriftungsformen verfaßt oder in Anthologien in unterschiedlicher Schreibweise aufgenommen. Literaturhinweise Gendai haikushû; hrsg. von Matsune Tôyôjô. Tôkyô: Chikuma shobô, 1958 (= Gendai Nihon bungaku zenshû; 91) Shôwa tanka-, Shôwa haikushû; hrsg. von Kubota Utsubo und Iida Dakotsu. Tôkyô: Kadokawa shoten, 1958 (= Shôwa bungaku zenshû; 41) Waka-, haiku-hen; hrsg. von Oyama Tokujirô. Tôkyô: Shun'yôdô, 1932 (= Meiji Taishô bungaku zenshû; 26) Yamamoto, Kenkichi: Teihon Gendai haiku. 11. Auflage. Tôkyô: Kadokawa shoten, 2007 (= Kadokawa sensho; 292) Masaoka Shiki. Tôkyô: Shun'yôdô, 1931 (= Meiji Taishô bungaku zenshû; 20) Akutagawa Ryûnosuke zenshû, 5. Tôkyô: Iwanami shoten, 1928 Natsume, Sôseki: Haiku-, shishû. Tôkyô: Iwanami shoten, 2003 (= Sôseki zenshû; 17) Haibungaku daijiten; hrsg. von Ogata Tsutomu [u.a.]. Tôkyô: Kadokawa gakugei shuppan, 1995. Gendai haiku daijiten; hrsg. von Yamashita Ikkai [u.a.]. Tôkyô: Sanseidô, 2008 Murayama, Kokyô; Yamashita, Kazumi: Haiku yôgo no kiso chishiki. 15. Auflage. Tôkyô: Kadokawa shoten, 2001 (= Kadokawa sensho; 144) Bashô (Matsuo Bashô): Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland; übers. und hrsg. von G. S. Dombrady. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1985 (= Handbibliothek Dieterich; 2) Bashô (Matsuo Bashô): Sarumino: Das Affenmäntelchen; hrsg. und aus dem Jap. übertr. von G. S. Dombrady. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1994. Buson (Yosa Buson): Dichterlandschaften; hrsg. und übers. von G. S. Dombrady. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1992 (= Handbibliothek Dieterich) Issa (Kobayashi Issa): Mein Frühling; übertr. aus dem Jap. von G. S. Dombrady. Zürich: Manesse, 1983 (= Manesse Bibliothek der Weltliteratur) Kobayashi Issa: Die letzten Tage meines Vaters; aus dem Jap. übertr. sowie mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von G. S. Dombrady. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1985 (= Handbibliothek Dieterich; 3) Far Beyond the Field: Haiku by Japanese Women; übers. und hrsg. von Makoto Ueda. New York: Columbia University Press, 2003. Schneider, Roland: „,Nomen est omen‘ – Bemerkungen zur paratextualen Funktion von Pseudonymen in japanischer Angestelltenlyrik (sara-sen)“, in: Anbauten Umbauten: Beiträge zur Japanforschung: Festgabe für Wolfgang Schamoni zum 60. Geburtstag von seinen Schülern, Mitarbeitern und Kollegen; hrsg. von Wolfgang Seiffert und Asa-Bettina Wuthenow. München: Iudicium, 2003, S. 139–148. xix Die Übersetzer Roland Schneider, Oscar Benl und Géza S. Dombrády (von links nach rechts)2 2 Anlässlich des 65. Geburtstages von Oscar Benl lud der Fotograph dieses Bildes, Heinz G. Bulgrin, damals Leiter der Graphischen Werkstätten Lübeck und mit der Familie Benl eng befreundet, die Runde der Übersetzer mit ihren Frauen zu einem Wochenende in Schneverdingen ein, wo auch eine Fahrt durch die Heide in der Pferdekutsche unternommen wurde. Die Gedichte 阿部みどり女 Abe Midorijo (1886–1980) Dichterin aus Sapporo, kann die Mittelschule krankheitshalber nicht beenden, geht 1909 nach Tôkyô, heiratet und kränkelt jahrelang weiter. Durch Takahama Kyoshi* angeregt, beginnt sie 1915 Haiku zu dichten, gleichzeitig ist sie Malerin. Die von ihr begründete Zeitschrift Komakusa („Doppelsporn“) betreut sie von ihrem Wohnort Sendai aus. 暁 え か け て 蟲 の 音 へ り に け り 2 五 重 の 塔 の 朱 は 朱 か ら ず 冬 日 落 つ 踏 切 ベ ル 霧 の 奥 よ り 蟲 の 如 一 人 送 り 秋 の 座 敷 に も ど り け り 熱 の 子 に 遠 雷 の 風 東 よ り netsu no ko ni enrai no kaze higashi yori Bis zu dem fiebernden Kind – vom Osten der Wind eines fernen Sommergewitters hitori okuri aki no zashiki ni modorikeri Ihn nur hab’ ich begleitet, kehre ins herbstliche Zimmer zurück fumikiri-beru kiri no oku yori mushi no goto Klingel am Bahnübergang: aus tiefem Nebel, wie leises Zirpen … gojû no tô no shu wa akakarazu fuyubi otsu Das Rot der fünfstufigen Pagode, verblasst in der sinkenden Wintersonne akatsuki he kakete mushi no oto herinikeri Bis zum Tagensanbruch reicht der Insekten Gezirp, nimmt dann ab … 3 秋元不死男 Akimoto Fujio (1901–1977) Aus Yokohama, verliert früh den Vater und wächst in großer Armut auf. Beginnt 1930 unter dem Einfluß von Awano Seihô* zu dichten, zunächst unter dem Namen Higashi Kyôzô. Veröffentlicht unter anderem in Dojô („Auf der Erde“). Bei der Verfolgung der neuen HaikuBewegung in Tôkyô wird Akimoto Fujio mit weiteren 12 Haiku-Dichtern im Februar 1941 inhaftiert. Gehört nach dem Kriegsende zur Redaktion der Zeitschrift Tenrô („Sirius“) von Yamaguchi Seishi*. す み れ 踏 み し な や か に 行 く 牛 の 足 4 雪 し き り 鐵 管 の 中 夜 と な る 獨 房 の 冬 日 わ が 手 に 蠅 す が る 愛 す と き 水 面 を 椿 寢 て 流 る aisu toki mizumo wo tsubaki nete nagaru In Liebesgedanken – auf dem Wasser treiben liegend Kamelienblüten dokubô no fuyubi waga te ni hae sugaru Wintertag in der Einzelzelle – an meine Hand klammert sich eine Fliege yuki shikiri tekkan no naka yoru to naru Dichter der Schneefall. Im Innern der Eisenröhre wird es Nacht sumire fumi shinayaka ni yuku ushi no ashi Auf Veilchen treten sie sanft: anmutig schreiten die Rinderhufe 5 Akiyama Shûkôryô (1885–1966) 秋山秋紅蓼 Aus der Yamanashi-Gegend. Reicht seine Shi-, Tanka- und Haiku-Gedichte seit frühester Jugend bei Zeitschriften ein und wird, angefangen bei Hototogisu („Bergkuckuck“), Mitarbeiter vieler Gedichtorgane. Seit seiner Bekanntschaft mit Ogiwara Seisensuis* Haiku-Dichtung ist er für die nächsten vierzig Jahre Verfechter dieses freien Stils und besonders engagierter Mitarbeiter an Sôun („Wolkenbänder“). 炭 の 音 き ん き ん 鳴 る ほ ど に 山 の 堅 い 炭 火 に な る 6 雀 鳴 く や こ の 朝 の よ い 生 活 が は じ ま る か も 知 れ ず 東 海 道 ど の 驛 に も 止 る 汽 車 に 乗 り 駿 河 の 富 士 道 長 の 榮 華 の 月 が 今 も 出 て た し か に 出 て い る か た つ む り 富 士 の 見 え る 方 へ 歩 い て ゆ く katatsumuri Fuji no mieru hô he aruite yuku Dahin, wo hoch der Fuji ragt, kriecht eine Schnecke wacker ihres Weges … Michinaga no eiga no tsuki ga ima mo dete tashika ni dete iru Der Mond, den Michinaga* besang, dieser Prachtmond – jetzt, ja, geht er ganz gewiß auf! Tôkaidô dono eki ni mo tomaru kisha ni nori Suruga no Fuji Auf der Tôkaidô-Strecke nehme ich den Bummelzug, den Fuji des Suruga-Landes zu sehn! suzume naku ya kono asa no yoi seikatsu ga hajimaru kamoshirezu Die Spatzen tschilpen – vielleicht beginnt mit diesem Morgen ein schöneres Leben sumi no ne kin-kin naru hodo ni yama no katai sumi hi ni naru Holzkohle knistert – mit jedem Knacken wird diese harte Bergholzkohle Feuer! * Michinaga: Fujiwara no Michinaga (966–1027), mächtigster und bedeutendster Adeliger der höfischen Zeit. 7 Akutagawa Ryûnosuke (1892–1927) 芥川龍之介 Aus Tôkyô stammender Schriftsteller von Weltruf. Ein vielseitiger Student, Absolvent der Universität Tôkyô im Fach Englische Literatur, Übersetzer von Yeats und Anatole France. Seine Novellen, von stilistischer Brillianz, sind geniale Adaptionen aus dem japanischen Schrifttum. Zusammen mit seinen Essays erscheinen sie ab Mitte 1919 in der Tageszeitung Mainichi shimbun. 1921 bereist er fünf Monate lang China. Danach verschlimmert sich sein Nervenleiden, bis er 1927 freiwillig aus dem Leben geht. 水 洟 や 鼻 の 先 だ け 暮 れ 残 る 8 初 秋 の 蝗 つ か め ば 柔 ら か き 兎 も 片 耳 垂 る る 大 暑 か な 庭 土 に 皐 月 の 蝿 の 親 し さ よ 労 咳 の 頬 美 し や 冬 帽 子 rôgai no hoo utsukushi ya fuyubôshi Die schönen Wangen einer Schwindsüchtigen unter der Wintermütze! niwatsuchi ni satsuki no hae no shitashisa yo Im Gartensand die Fliegen aus einer Regennacht – mir wohlvertraut! usagi mo katamimi taruru taisho kana Selbst der Hase läßt das eine Ohr hängen – in dieser Hitze! hatsuaki no inago tsukameba yawarakaki An einem frühen Herbsttag Heuschrecken sammeln – wie weich zu fühlen! Selbstspott mizubana ya hana no saki dake kurenokoru Meine Schnupfnase! Nur ihre Spitze bleibt sichtbar in der Dunkelheit 9 Anzai Ôkaishi (1886–1953) 安齋櫻磈子 Aus einer alten Samurai-Familie der Präfektur Miyagi stammend, erlernt er bei dem universell gebildeten Sugawara Shichiku (1863–1919) auch das Haiku-Dichten. Kawahigashi Hekigotô* wird auf ihn aufmerksam und veröffentlicht seine Werke. Mit Dichtern dessen Kreises pflegt er freundschaftlichen Umgang, darunter Ogiwara Seisensui* und Ôsuga Otsuji*. Wird Mitarbeiter der Zeitschrift Kaikô („Meeresrot“). Auch durch Miszellenwerke bekannt geworden. 舟 を 上 れ ば 陸 の 雑 音 蜩 に 10 茸 の 香 を し ぐ れ の 羽 織 た ゝ む 時 夜 の 海 の 一 艘 一 燈 の 走 り 秋 と 思 ふ 轟 々 さ み だ れ の 河 汽 車 は 一 汽 笛 に て 渡 る 少 女 の 反 抗 は 肩 に し た 桃 色 の 日 傘 く る く る 廻 は す shojo no hankô wa kata ni shita momoiro no higasa kuru-kuru mawasu Widerspenstig’ Mädchen: Den pfirsichroten Sonnenschirm läßt sie an ihrer Schulter kreiseln! gô-gô samidare no kawa kisha wa hitokiteki nite wataru Über den Fluß, vom Sommerregen angeschwollen, rast pfeifend ein Zug! yoru no umi no issô ittô hashiri aki to omou Durch das nächtliche Meer eilt leuchtend ein Schiff. Ich spüre den Herbst … kinoko no ka wo shigure no haori tatamu toki Duft von Pilzen beim Ausklopfen meines regennassen Umhangs fune wo noboreba riku no zatsuon higurashi ni Nachdem ich an Bord ging, weicht der geschäftige Lärm dem Zirpen von Zikaden … 11 Awano Seiho (1899–1992) 阿波野靑畝 Aus der Präfektur Nara. Durch Takahama Kyoshi* in den Stil des „objektiven“ Haiku der Naturbeschreibung (shasei) eingeführt. Seit 1932 ständiger Mitarbeiter an Hototogisu („Bergkuckuck“). Unterhält seit 1929 eine eigene Literaturzeitschrift Katsuragi („Der Berg Katsuragi“). 老 人 の ヘ ル ン を 語 る 秋 の 宿 12 疊 ふ む 夏 足 袋 映 る 鏡 か な 足 音 が か た ま つ て 來 る 寢 釋 迦 か な 汝 と 我 相 寄 ら ず と も 春 惜 む ル ノ ア ル の 女 に 毛 絲 編 ま せ た し Runoaru no onna ni keito amasetashi Renoirs Mädchengestalten möcht’ ich gern stricken sehen! nare to ware aiyorazu tomo haru oshimu Wir sind uns nicht nähergekommen – hab’ dennoch jenen Frühling im Sinn! ashioto ga katamatte kuru nejaka kana Immer die lauten Schritte der Besucher – Oh, schlafender Buddha! tatami fumu natsutabi utsuru kagami kana Sommersocken auf Matten schreitend nur im Spiegel zu sehen rôjin no Herun wo kataru aki no yado Über den alten Hearn* Gespräche führen in der Herberge im Herbst … * Lafcadio Hearn (1850–1904), englischer Schriftsteller, der durch seine Adaptionen japanischer Motive bekannt wurde. 13 Furusawa Taiho (1913–2000) 古澤太穂 Aus der Präfektur Toyama. Schließt im Fach Russische Literatur an der Universität Tôkyô ab, wird Angestellter einer Firma für Verpackungsmaterial. Mit Tuberkulose im Krankenhaus, beginnt er, angeregt durch Mizuhara Shûôshis* Zeitschrift Ashibi („Besenstrauch“), Haiku zu dichten. Katô Shûson* wird sein Lehrer, er selbst wird Mitarbeiter an der Zeitschrift Kanrai („Wintergewitter“). Später Gründer der Zeitschrift Dôhyô („Wegweiser“). 寒 夜 わ が 醉 え ば 生 る る 金 の 虹 14 で で む し が 旭 へ 角 か ざ し 子 ら の 日 だ 孤 兒 た ち に 映 畫 く る 日 や 燕 の 天 鵙 鳴 く や 寢 こ ろ ぶ 胸 へ 子 が 寢 こ ろ ぶ ロ シ ヤ 映 畫 み て き て 冬 の に ん じ ん 太 し Roshia eiga mite kite fuyu no ninjin futoshi Komme eben aus einem russischen Film – so dicke Winterrüben! mozu naku ya nekorobu mune he ko ga nekorobu Ein Neuntöter schreit. Ich wälze mich im Schlaf, mein Kind wälzt sich zu mir Zwei Gedichte im Waisenhaus Nakazato kojitachi ni eiga kuru hi ya tsubame no ten Zu den Waisenkindern kommt das Kino: Ein Himmel voller Schwalben! dedemushi ga hi he tsuno kazashi kora no hi da Schneckenfühler, der Sonne entgegengestreckt – heute ist Kinderfest! kan'ya waga yoeba umaruru kin no niji In kalter Nacht vom Wein benebelt, sah ich den goldnen Regenbogen! 15 原石鼎 Hara Sekitei (1886–1951) Aus der Präfektur Shimane, führt nach einem abgebrochenen Medizinstudium in Kyôto ein unstetes Leben in Tôkyô und in seiner Heimat. Zeitweilig als Aushilfe bei seinem Bruder, der Arzt ist. Haiku-Dichter der Hototogisu-Gruppe, übernimmt die Haiku-Kolumne der Tageszeitung Nichinichi shimbun, anschließend 10 Jahre Herausgebertätigkeit bei der Zeitschrift Kabiya („Nächtliches Wachtfeuer“). Meister der Haiga-Malerei. Von 1938 an kränkelt er bis zu seinem Tode. 己 が 庵 に 火 か け て 見 む や 秋 の 風 16 凩 や 列 車 降 り な ば 妓 買 は む 春 宵 や 人 の 屋 根 さ へ み な 戀 し 淋 し さ に ま た 銅 鑼 打 つ や 鹿 火 屋 守 秋 風 や 模 様 の ち が ふ 皿 二 つ akikaze ya moyô no chigau sara futatsu Herbstwind! Vor mir, verschieden gemustert, zwei Eßschälchen sabishisa ni mata dora utsu ya kabiyamori Aus Einsamkeit schlägt wieder den Gong der Wächter am Nachtfeuer shunshô ya hito no yane sae mina koishi Frühlingsnacht! Selbst die Hausdächer sind ineinander verliebt … kogarashi ya ressha orinaba gi kawamu Eisiger Wind! Steigen wir aus dem Zug, gehen wir gleich ins Bordell! waga io ni hi kakete mimu ya aki no kaze Am liebsten würd’ ich meine Hütte in Brand stecken, bei diesem Herbstwind 17 橋本夢道 Hashimoto Mudô (1903–1974) Ursprünglicher Name Hashimoto Jun'ichi. Aus der Präfektur Tokushima, geht nach dem Volksschulabschluß nach Tôkyô und wird, beginnend mit einer Lehre im Großhandel, Geschäftsmann. Sein Lehrer wird Ogiwara Seisensui*. Mit Kuribayashi Issekiro* und anderen Freunden Mitarbeiter an der Zeitschrift Haiku seikatsu („Haiku-Leben“). 1941 für zwei Jahre als Mitglied der sog. „Proletarischen Haiku-Bewegung“ inhaftiert. Nach dem Krieg Mitglied im „Neuen Bund der Haiku-Dichter“ (Shin haikujin remmei). 死 顏 に も の 云 え ば 悲 し 死 顏 に も の 云 わ ず 18 金 色 の 目 を あ け て 龜 不 思 議 そ う に 沈 ん で ゆ く 妻 の 留 守 に 押 入 れ を の ぞ き 驚 き 飢 餓 日 記 妻 の 愛 情 の 如 苔 寺 の 苔 や わ ら か に ビ ロ 〡 ド に う ご け ば 寒 い 冬 の 家 を 出 て 妻 子 と 喜 劇 に 笑 つ て い る fuyu no ie wo dete tsumako to kigeki ni waratte iru In den Winter hinaus – mit Frau und Kind lachen im Possenstück! ugokeba samui Bewegt man sich, spürt man die Kälte erst tsuma no aijô no goto kokedera no koke yawaraka ni birôdo ni Wie die Liebe meiner Frau ist das Moos aus dem Moosgarten: so weich, wie Samt … tsuma no rusu ni oshiire wo nozokiodoroki kiga nikki Meine Frau ist nicht zuhaus: erschreckt entdecke ich im Wandschrank ihr Hunger-Tagebuch! kin'iro no me wo akete kame fushigisô ni shizunde yuku Goldglänzende Augen öffnet die Schildkröte und taucht rätselhaft in die Tiefe shigao ni monoieba kanashi shigao ni monoiwazu Dem toten Gesicht wollt’ ich etwas sagen – blieb stumm vor dem traurigen Gesicht des Toten 19 橋本多佳子 Hashimoto Takako (1899–1963) Die aus Tôkyô stammende Dichterin, Enkelin des Leiters einer Koto-Schule, besucht eine Mädchenschule für Kunst und heiratet 1917 den Architekten Hashimoto Toyojirô, lebt in Kokura (heutiges Kita-Kyûshû) und bekommt vier Töchter. 1937, im Alter von 39 Jahren, verliert sie ihren Mann. Sie lernt Haiku-Dichten zunächst bei Sugita Hisajo*, nach ihrem Umzug nach Ôsaka ab 1930 bei Takahama Kyoshi* und Yamaguchi Seishi*. Mit dem Ausscheiden des letzteren aus dem Mitarbeiter-Kreis des Hototogisu („Bergkuckuck“) wechselt sie zu Ashibi („Besenstrauch“), nach dem Krieg zu Tenrô („Sirius“). 硯 洗 ふ 墨 あ を あ を と 流 れ け り 20 髪 白 く 笛 息 ふ か き 祭 び と 颱 風 過 し づ か に 寢 ね て 死 に ち か き 月 光 に 一 つ の 椅 子 を 置 き か ふ る 母 と 子 の ト ラ ン プ 狐 啼 く 夜 な り haha to ko no torampu kitsune naku yo nari Mutter und Sohn beim Kartenspiel – draußen in der Nacht heulen Füchse gekkô ni hitotsu no isu wo okikauru Im Mondlicht stelle ich den einen Stuhl hin und her … taifûka shizuka ni inete shi ni chikaki Nach dem Taifun – und ich schlief ganz friedlich, dem Tode nah … kami shiroku fue iki fukaki matsuribito Mit weißem Haar tief Atem holend der Flötist im Volksfesttrubel suzuri arau sumi ao-ao to nagarekeri Den Tuschreibstein spül’ ich die Tusche tiefblauschwarz fließt dahin … 21 紙 漉 女 と 語 る 水 音 絶 間 な し 22 月 一 輪 凍 湖 一 輪 光 あ ふ 白 露 や わ が 在 り し 椅 子 あ た ゝ か に shiratsuyu ya waga arishi isu atataka ni Ringsum alles weiß von Tau nur der Stuhl, auf dem ich saß, ist noch warm … tsuki ichirin tôko ichirin hikariau Der Mond eine Scheibe, der See eine Scheibe Eis – leuchten sich an kamisukime to kataru mizuoto taema nashi Beim Gespräch mit der Papierschöpferin hört das Wasserrauschen nicht auf 23 日野草城 Hino Sôjô (1901–1956) In Tôkyô geboren, verbringt seine Jugend in Korea. Während seines Jura-Studiums an der Universität Kyôto Vorsitzender der dortigen Haiku-Gruppe. Nach Studienabschluß Angestellter des Sumitomo-Versicherungskonzerns in Ôsaka, steigt 1945 auf zum Posten des Bezirksdirektors von Kôbe. Im selben Jahr wird sein Haus zerbombt, 1946 wird er lungenkrank und bis zu seinem Tode nicht mehr gesund. Gehört anfangs zur Hototogisu-Gruppe, lehnt sich dann gegen die strikte thematische Einschränkung des Haiku durch Takahama Kyoshi* auf und wird von ihm zusammen mit anderen Dichtern 1936 aus der Hototogisu-Gruppe ausgeschlossen. 1935 gibt er die Zeitschrift Kikan („Flaggschiff“) heraus, 1949 dann Seigen („Blauer Himmel“). 酒 に 醉 ひ 長 き 童 貞 を 自 嘲 せ り 24 も の 言 は ぬ 猫 と 留 守 居 の 刻 な が し タ イ ピ ス ト コ ツ プ に 薔 薇 を ひ ら か し む ゆ る や か に 炎 暑 の 琴 の 音 の 粒 遽 か の 暑 美 人 の 汗 に 眼 を と ど む niwaka no sho bijin no ase ni me wo todomu Plötzliche Hitze – auf die Schweißperlen einer Schönen fällt mein Blick! yuruyaka ni ensho no koto no oto no tsubu Leise und sanft in der Hitze die Laute der Koto im Hof taipisuto koppu ni bara wo hirakashimu Die Schreibkraft läßt im Wasserglas eine Rose blühen monoiwanu neko to rusui no toki nagashi Das Haus hüten mit der Katze, die kein Wort spricht, wie lang doch die Zeit sake ni yoi nagaki dôtei wo jichô seri Im Sake-Rausch: Wegen meiner langen keuschen Jugend veracht’ ich mich 25 わ が 手 枯 れ 妻 の 手 は 固 く な り に け り 26 妻 子 を 擔 ふ 片 眼 片 肺 枯 手 足 枕 邊 の 春 の 灯 は 妻 が 消 し ぬ 裸 婦 の 圖 を 見 て を り い の ち お と ろ へ し rafu no zu wo mite ori inochi otoroeshi Beschaue mir Bilder nackter Frauen. Es geht abwärts mit mir aus: „10 Gedichte zur Hochzeitsnacht im Miyako-Hotel“ makurabe no haru no tomoshi wa me ga keshinu Das Licht am Kopfende in dieser Frühlingsnacht von meiner Frau gelöscht Halt durch, Sôjô! tsumako wo ninau katame katahai kare teashi Ich schleppe Frau und Kind – einäugig, halbe Lunge, Arme und Beine schlaff waga te kare me no te wa kataku narinikeri Meine Hand schon schwach – so wird die meiner Frau kräftig und fest 27 平畑靜塔 Hirahata Seitô (1905–1997) Sohn eines Bankiers aus Wakayama, wird nach seinem Medizinstudium in Kyôto Nervenarzt. Gehört zunächst zu den Dichtern der Hototogisu-Gruppe und gibt ab 1932 die Haiku-Zeitschrift Kyôdai haiku heraus. Im Februar 1940 während der Verfolgung der Haiku-Avantgarde mit anderen Mitgliedern der Kyôdai haiku-Gruppe inhaftiert. Im Krieg schwer verwundet. Später Mitarbeit an Yamaguchi Seishis* Tenrô („Sirius“), der einflussreichsten Gruppe nach dem Krieg. 春 月 に 妻 一 生 の 盥 置 く 28 足 袋 の 底 記 憶 の 獄 を 踏 む ご と し 早 乙 女 の 遠 き 欠 伸 の 口 黑 し 海 苔 採 る と 櫛 笄 を 外 す な る 赤 煮 え の 海 人 が 初 湯 を 出 て あ る く aka'nie no ama ga hatsuyu wo dete aruku Krebsrot entsteigt die Taucherin dem ersten Bad und spaziert davon … nori toru to kushi kôgai wo hazusu naru Ehe sie Tang sammelt, legt sie ab, was sie trägt: Kamm und Haarnadeln saotome no tôki akubi no kuchi kuroshi Dem Mädchen schau ich beim Gähnen von fern in den Mund – dunkle Höhle tabi no soko kioku no goku wo fumu gotoshi Weiße Tabi-Socken – in Gedanken treten sie in meine Zelle … shungetsu ni tsuma isshô no tarai oku Unter den Frühlingsmond stelle ich den Holzbottich, den meine Frau ein Leben lang benützte 29 星野麥人 Hoshino Bakujin (1877–1965) Aus Tôkyô, zunächst vom Romancier und Haiku-Dichter Ozaki Kôyô* beeinflusst. Gründet Haisô („Haiku-Dickicht“, 1901), später hauptverantwortlich für die Zeitschrift Kidachi („Holzschwert“). 朝 東 風 や 耳 朶 紅 う 人 の ゆ く 30 や は ら か き 茨 の 刺 や 春 の 雨 炭 の 音 か ち り 〳 〵 と ひ そ か な り 夕 寂 や 落 鮎 頃 の 渡 し 舟 yûjaku ya ochiayu koro no watashibune Ein stiller Abend! Über laichende Forellen gleitet das Fährboot sumi no oto kachiri-kachiri to hisoka nari Holzkohlenfeuer: Wie es knistert und knackt – so geheimnisvoll! yawarakaki ibara no toge ya haru no ame Wie weich sind doch die Dornen der Rose im Frühlingsregen … asa kochi ya mimitabu akô hito no yuku Ostwind am Morgen – mit roten Ohrläppchen eilen alle dahin 31 星野立子 Hoshino Tatsuko (1903–1984) Dichterin aus Tôkyô, zweite Tochter des Takahama Kyoshi*, absolviert die Höhere Töchterschule, heiratet 1925 Hoshino Yoshito und beginnt, von ihrem Vater angeregt, zu dichten. Ihre ersten Verse erscheinen in der Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“). 1930 gründet sie eine Haiku-Zeitschrift, die sich primär an Frauen richtet, Tamamo („Seetang“). 1953 macht sie eine dreimonatige Haiku-Reise nach Nord- und Südamerika. 一 世 は ふ る さ と 讃 へ 秋 讃 へ 32 月 夜 よ し 虫 よ し 送 り 送 ら れ て 君 の 立 場 我 の 立 場 や 寒 燈 下 川 霧 や 犬 通 り て も ゆ る ゝ 橋 た ん ぽ ゝ と 小 聲 で 言 ひ て み て 一 人 雛 飾 り つ ゝ ふ と 命 惜 し き か な hina kazaritsutsu futo inochi oshiki kana Beim Aufstellen der Festtagspuppen denke ich unwillkürlich über mein Leben nach – ungern! tampopo to kogoe de iite mite hitori Mit der Pusteblume möcht’ ich leise reden – ganz allein … kawagiri ya inu tôritemo yururu hashi Herbstnebel überm Fluß: die Brücke schwankt schon, wenn ein Hund hinüberläuft kimi no tachiba ware no tachiba ya kantôka Deine Meinung und meine Meinung – so stehn wir im kalten Laternenlicht … tsukiyo yoshi mushi yoshi okuri okurarete Mondnacht und Grillen – so schön begleiten mich vom Begleiten zurück issei wa furusato tatae aki tatae Ein Leben lang lob’ ich mir die Heimat, lob’ ich mir den Herbst 33 細見綾子 Hosomi Ayako (1907–1997) Dichterin aus der Präfektur Hyôgo, schließt 1927 im Fach Literatur an der Universität Nihon joshi daigaku ab und heiratet anschließend einen Mediziner, der 1928 stirbt. Ab 1930 Interesse für Haiku-Dichtung, lernt zunächst bei Yamaguchi Seishi*; Mitarbeiterin verschiedener Zeitschriften, etwa Kaze („Wind“) und Tenrô („Sirius“). Eigene Haiku-Bände erscheinen ab 1942. Im Jahr 1948 heiratet sie den Haiku-Dichter Sawaki Kin'ichi*. 亡 母 戀 ひ し 電 柱 に 寄 せ よ ご れ し 雪 34 チ ュ 〡 リ ッ プ 喜 び だ け を 持 つ て ゐ る 夏 み か ん 手 に 海 を 見 る 場 所 探 す 麥 刈 に く た び れ て ゐ て 月 が 出 し mugikari ni kutabirete ite tsuki ga deshi Todmüde ging ich heim von der Erntearbeit – da ging der Mond auf! natsu mikan te ni umi wo miru basho sagasu Eine Mandarine in der Hand such’ ich den besten Platz, das Meer zu schauen chûrippu yorokobi dake wo motte iru Einzig die Freude an den Tulpen – sonst hab ich nichts! haha koishi denchû ni yose yogoreshi yuki Meine verstorbene Mutter vermissend, fege ich den schmutzigen Schnee an den Telegrafenmast … 35 細谷源二 Hosoya Genji (1906–1970) Aus Tôkyô; in seiner Jugend Mitarbeiter am Organ Rôdô geijutsuka („Arbeiter-Künstler“) zusammen mit Naitô Tatsuo (1893–1966). Schließt sich zunächst der neuen Tanka-Bewegung an, bis er ab 1933 für das Haiku größeres Interesse zeigt und an der Zeitschrift Ku to hyôron („Haiku und Kritik“) und deren Neugestaltung Hiroba („Offener Platz“) mitarbeitet. 1941 für zwei Jahre inhaftiert. Maßgeblich beteiligt an der kulturellen Erschließung von Hokkaidô. Als Kritiker, Essayist und Dichter gleichermaßen bedeutend. 夜 の 森 や 一 寸 死 に た く 冬 不 運 36 家 ま ず し お ゝ 煌 々 と 夜 の 列 車 父 の 死 や 布 團 の 下 に は し た 錢 百 姓 の 一 家 の 寢 顏 ガ ラ ス 戸 越 し に 腐 る 梅 雨 火 夫 の あ く び の 舌 赤 し ゆ き ち ら ち ら そ ん な 日 暮 の あ か き 魚 yuki chira-chira sonna higure no akaki uo Schneeflocken tanzen rötlich glühen die Fische in der Dämmerung kusaru tsuyu kafu no akubi no shita akashi Modrige Regenzeit! Der Heizer gähnt, man sieht die rote Zunge hyakusho no ikka no negao garasudo goshi ni Das ganze Bauernhaus zeigt sein schlafendes Gesicht hinter der Glastür chichi no shi ya futon no shita ni hashita sen Vater lebt nicht mehr. Unter der Schlafmatte sein restliches Geld ie mazushi ôkôkô to yoru no ressha An Elendshütten vorbei rast glitzernd der Nachtexpress yo no mori ya chotto shinitaku fuyu fuun Nächtlicher Wald – tot sein wollen für kurze Zeit, vor Winterüberdruß 37 飯田蛇笏 Iida Dakotsu (1885–1962) Der „moderne Bashô“ genannt, stammt aus einem idyllischen Dorf der Präfektur Yamanashi in Sichtweite des Fuji. Studiert westliche Literatur, insbesondere englische, an der Waseda-Universität, wo er mit seinen ersten schriftstellerischen Versuchen (Novellen und Gedichte in freien Rhythmen) beginnt. Dichtet seit dem 9. Lebensjahr auf Anregung Takahama Kyoshis* hin Haiku, sie erscheinen in Hototogisu („Bergkuckuck“) und der Kolumne Kokumin haidan („Haiku-Platform des Volkes“). 1909 gibt er das Stadtleben auf und zieht sich als Sohn begüterter Eltern in die Heimat zurück, wo er Redakteur eines lokalen Gedichtorgans wird. Seine Reisen führen ihn auch nach China und Korea, das Ergebnis: Essays, Gedichte, Reiseberichte. Zwischen 1941 und 1946 verliert er Eltern und drei Söhne, seine literarische Schaffenskraft bleibt ungebrochen, u.a. wird er Chefredakteur der Zeitschrift Ummo („Glimmer“), an der auch sein Sohn Iida Ryûta* mitarbeitet. 炭 賣 の 娘 の あ つ き 手 に 觸 り け り 38 巫 女 の 劍 佩 き た る 雪 月 夜 わ が 浴 む た く ま し き 身 に 夏 の 空 埋 火 に 妻 や 花 月 の 情 に ぶ し 大 巖 に ま ど ろ み さ め ぬ 秋 の 山 ôiwa ni madoromi samenu aki no yama Auf einem großen Felsen aus kurzem Schlaf erwacht: die Berge in Herbstes Pracht uzumibi ni tsuma ya kagetsu no jô nibushi Am Kohlenfeuer hockt meine Frau – ‚Mond und Blüten‘ lassen sie kalt … waga yuamu takumashiki mi ni natsu no sora Mein kräftiger Körper im heißen Quellbad, darüber Sommerhimmel! kannagi no tsurugi hakitaru yukizukiyo Tanzende Schreinjungfrauen gürten sich mit Schwertern in mondbeschienener Schneenacht! sumiuri no ko no atsuki te ni sawarikeri Holzkohlenhändlers schöne Tochter – ihre heiße Hand berührt’ ich! 39 飯田龍太 Iida Ryûta (1920–2007) Aus Yamanashi, studiert Japanische Literatur und wird Bibliothekar in seiner Heimat. Nach dem Krieg unterstützt er seinen Vater, Iida Dakotsu*, bei der Arbeit an der Zeitschrift Ummo („Glimmer“). Nach dem Tod seines Vaters führt er die Zeitschrift als Herausgeber bis zu ihrer Einstellung 1992 weiter. 露 草 も 露 の ち か ら の 花 ひ ら く 40 雪 の 峯 し づ か に 春 の の ぼ り ゆ く 耳 そ ば だ て て 雪 原 を 遠 く み る 螢 火 や 箸 さ ら さ ら と 女 の 刻 秋 耕 音 な し た だ 汗 の 背 と 鴉 の 黑 shûkô oto nashi tada ase no se to karasu no kuro Lautloses Pflügen im Herbst. Allein der schweißnasse Rücken und das Schwarz der Krähen hotarubi ya hashi sara-sara to onna no toki Glühwürmchenlicht – Eßstäbchen klappern, Zeit der Frauen mimi sobadatete setsugen wo tôku miru Mit gespitzten Ohren blicke ich weithin über das Schneefeld … yuki no mine shizuka ni haru no noboriyuku Zu den schneeglänzenden Gipfeln steigt der Frühling leise hinauf … tsuyugusa mo tsuyu no chikara no hana hiraku Auch die Tauwiese blüht – genährt von der Kraft der Tautropfen 41 池内友次郎 Ikenouchi Tomojirô (1906–1991) Zweiter Sohn des Takahama Kyoshi*, in Tôkyô geboren, in der Familie Ikenouchi – seiner Großverwandtschaft – erzogen. Studiert 1927–1936 an der Musikhochschule von Paris. Später Professor für Kompositionslehre an der Musikhochschule von Tôkyô. 石 像 の 裸 女 に 新 樹 の 夜 更 け ぬ る 42 東 京 驛 大 時 計 に 似 た 月 が 出 た 本 を 積 み 重 ね 星 飛 び 窓 を 閉 め 年 忘 れ 過 去 は 斷 片 な る と き 美 失 ひ し 音 綠 蔭 へ 逃 げ お ほ す 星 は 夜 夜 對 話 し 木 木 は 落 葉 す る hoshi wa yoyo taiwa shi kigi wa ochiba suru Mit den Sternen nächtlich im Gespräch während Bäume sich entblättern ushinaishi oto midorikage he nigeôsu Töne verlieren sich verschwinden ins grüne Schattendunkel toshiwasure kako wa dampen naru toki bi Jahresabschlußfeier – die Vergangenheit: Fragmente, Momente der Schönheit hon wo tsumi kasane hoshi tobi mado wo shime Bücher gestapelt Sternschnuppen fallen ich schließe das Fenster Tôkyô eki ôdokei ni nita tsuki ga deta So groß wie die Uhr am Bahnhof von Tôkyô ging der Mond auf sekizô no rajo ni shinju no yo fukenuru Über Skulpturen nackter Frauen zwischen jungen Bäumen bricht Nacht herein … 43 石橋秀野 Ishibashi Hideno (1909–1947) Aus einer Bauernfamilie der Präfektur Nara stammend, bricht sie ihr Hochschulstudium ab, um sich unter Anleitung von Yosano Akiko (1878–1942) und Takahama Kyoshi* der HaikuDichtung zu widmen. Vom Kreis um Yokomitsu Riichi (1898–1947) angeregt, wird sie Mitarbeiterin der Zeitschrift Tsuru („Kraniche“). 苔 さ く や 佛 う す る ゝ 石 の 面 44 火 の や う な 月 の 出 花 火 打 ち 終 る 風 冴 え て 魚 の 腹 さ く 女 の 手 遠 ざ か る 咳 に 師 走 の 夜 深 く 淺 草 の 鐘 鳴 り 春 の 蚊 一 匹 陵 は 早 稻 の 香 り の 故 郷 か な Unterwegs in der alten Kaiserprovinz Yamato misasagi wa wase no kaori no kokyo kana Hügelgrab eines Tennô! Nach Reisähren duftendes Heimatland Asakusa no kane nari haru no ka ippiki Glocken dröhnen von Asakusa her – hier summt die Frühlingsmücke … tôzakaru seki ni shiwasu no yoru fukaku Ein Hüsteln entfernt sich und tiefer wird dabei die Dezembernacht kaze saete uo no hara saku onna no te Vom Wind ist diese Mädchenhand noch eisiger, schlitzt Fischbäuche auf hi no yô na tsuki no de hanabi uchiowaru Wie eine Feuerkugel: der aufgehende Mond nach dem Feuerwerk koke saku ya hotoke usururu ishi no omo Moos blüht auf Buddhas steinernem Antlitz verwischt seine Züge 45 石田波郷 Ishida Hakyô (1913–1969) Aus Matsuyama, absolviert eine Mittelschule, die Berühmtheiten wie Masaoka Shiki* und Takahama Kyoshi* hervorbrachte, dementsprechend früh mit dem Dichten vertraut. Geht mit 19 Jahren nach Tôkyô, schließt sich der Gruppe um Mizuhara Shûôshi* an und publiziert in der Zeitschrift Ashibi („Besenstrauch“). Seine erste Sammlung erscheint 1935, 1937 gründet er eine eigene Zeitschrift, Tsuru („Kraniche“). Wird 1943 eingezogen, erkrankt auf dem NordchinaFeldzug an Tuberkulose, so daß er 1945 nach Hause geschickt wird und vier Jahre im Krankenhaus verbringt, wonach er nie wieder ganz gesundet. 力 な く 降 る 雪 な れ ば な ぐ さ ま ず 46 麻 藥 う て ば 十 三 夜 月 遁 走 す 栗 咲 く 香 血 を 喀 く 前 も そ の 後 も 路 地 狭 く 隣 家 の 蚊 帳 に 胸 裸 あ り 自 動 車 の 深 夜 疾 走 し 散 る さ く ら 明 治 節 乙 女 の 體 操 胸 隆 く Meiji setsu otome no taisô mune takaku Kaisers Gedenktag: Schulmädchen turnen – recken stolz die Brüste! jidôsha no shin'ya shissô shi chiru sakura Hinter dem Auto, das durch die Nacht rast, schweben Kirschblüten herab … roji semaku rinka no kaya ni mune hada ari Eng das Gässchen: Im Moskitonetz da drüben eine nackte Brust kuri saku ka chi wo haku mae mo sono ato mo Duft der Kastanienblüte – vor meinem Blutsturz und auch noch danach mayaku uteba jûsan'yazuki tonsô su Vom Opiat betäubt, ist mir, als entfliehe der fast runde Vollmond chikara naku furu yuki nareba nagusamazu Langweilig und kraftlos fallen die Schneeflocken – trösten mich nicht 47 石川桂郎 Ishikawa Keirô (1909–1975) Aus Tôkyô, übt bis 1941 den Beruf des Friseurs aus. Erhält eine Ausbildung im Haiku-Dichten bei Sugita Hisajo*, freundet sich mit anderen Dichtern an aus der Gruppe, die die Zeitschrift Tsuru („Kraniche“) herausgibt. Später, 1948, wird er auch mit Mizuhara Shûôshi* bekannt. Mitarbeit an der Zeitschrift Ashibi („Besenstrauch“). 夢 に み る 女 は ひ と り 星 祭 48 ご う ご う と 風 呂 沸 く 降 誕 祭 前 夜 毛 蟲 這 ふ ご と き 寡 な き 錢 渡 す 晝 寢 子 や 生 れ し 日 の ご と 髪 濡 れ て hiruneko ya areshi hi no goto kami nurete Mittagsschlaf macht mein Kind, sein Haar feucht wie damals am Tag der Geburt! kemushi hau gotoki sukunaki sen watasu Wie eine Raupe kriecht man zu ihr hin, der billigen Stunden-Dame gô-gô to furo waku kôtansai zen'ya Es lärmt und tobt das Badehaus an Heiligabend! yume ni miru onna wa hitori hoshimatsuri Die Frau, von der ich träumte, ganz allein beim Jahresfest der Liebenden 49 石塚友二 Ishizuka Tomoji (1906–1986) Schriftsteller und Dichter aus der Präfektur Niigata. Geht 19jährig nach Tôkyô und wird Buchhändler. Gehört anfangs zur Dichtergruppe um die Zeitschrift Kareno („Herbstfeld“), später arbeitet er für Ashibi („Besenstrauch“). 1935 Gründung einer eigenen Buchhandlung, veröffentlicht zahlreiche literarische Werke, u.a. von Yokomitsu Riichi (1898–1947), Kawabata Yasunari (1899–1972), Nakamura Kusatao* und Ishida Hakyô*; mit letzterem gründet er 1937 die Zeitschrift Tsuru („Kraniche“). Als Romanautor ebenso bekannt wie als Haiku-Dichter. わ が 戀 は 失 せ ぬ 新 樹 の 夜 の 雨 50 酒 汲 ん で 醉 は ぬ し づ け さ 夏 祭 毛 布 買 ひ 一 夜 は 早 く 寢 ま り た り 支 那 蕎 麥 の 手 招 く 灯 あ り 霜 の 辻 春 の 夜 の い つ ま で 残 す 夫 婦 の 灯 haru no yo no itsu made nokosu fûfu no hi Frühlingsnacht – wie lange wohl bleibt es noch hell bei jenem Ehepaar …? shinasoba no temaneku hi ari shimo no tsuji An der Kreuzung winkt das Licht des Nudelverkäufers im Morgenfrost … môfu kai hitoya wa hayaku nemaritari Eine Wolldecke kaufte ich, ging ganz früh zu Bett an diesem Abend sake kunde yowanu shizukesa natsumatsuri Beim Reiswein-Trinken Stille in mir, kein Rausch beim Sommernachtsfest waga koi wa usenu shinju no yoru no ame Meine Liebe läßt nicht nach: nächtlicher Regen auf den jungen Bäumen 51 伊丹三樹彦 Itami Mikihiko (1920– ) Pseudonym des Iwata Hideo aus Itami. Publiziert seine ersten Gedichte in Hasegawa Kanajos (1887–1969) Suimei („Sonnenlicht auf dem Wasser“) und Hino Sôjôs* Kikan („Flaggschiff“). Wird 1941 ständiger Mitarbeiter bei Hinos Zeitschrift. Nach dem Krieg gibt er mit Gleichgesinnten weitere Zeitschriften heraus, u.a. Akashiya („Scheinakazie“) sowie ab 1951 mit Hino Sôjô zusammen Seigen („Blauer Himmel“). Als Chefredakteur der Zeitschrift Seigen tritt er für das moderne Haiku, in moderner japanischer Sprache geschrieben, ein. 子 を 連 れ て 覗 く 酒 場 の 聖 飾 樹 52 腹 減 り て 敎 會 を 去 る 秋 の 暮 彈 か れ ざ る 琴 に 婚 後 の 月 日 か な 男 の 子 得 ば ﹁ 夏 樹 ﹂ と 呼 ば ん 森 に 入 る 業 卒 へ て 無 帽 な り 春 の 大 道 に す で に 秋 か ぜ や 尿 を 吹 き 曲 げ て 雪 國 の 改 札 を 出 づ 列 尾 に て yukiguni no kaisatsu wo izu retsubi nite Im Schneeland – durch die Bahnhofssperre trete ich als letzter hinaus sude ni aki kaze ya ibari wo fukimagete Ist das wohl schon der Herbstwind, der meinen Wasserstrahl verbiegt? gyô oete mubô nari haru no daidô ni Vorbei das Examen – auf die Hauptstraße im Frühling, ganz ohne Schulkappe! onoko eba „Natsuki“ to yoban mori ni iru „Wird es ein Junge, nennen wir ihn Natsuki!“* – gingen wir in den Wald hikarezaru koto ni kongo no tsukihi kana Auf dieser Koto lasten – ungespielt seit der Hochzeit – all die Tage … hara herite kyôkai wo saru aki no kure Hunger im Bauch verlasse ich die Kirche, hinaus in den Herbstabend … ko wo tsurete nozoku sakaba no seishokuju Mit meinem Kleinen heimlich in die Schänke geschaut: ein Weihnachtsbaum! * wörtl.: „Sommerbaum“ 53 金子兜太 Kaneko Tôta (1919– ) Aus der Präfektur Saitama, studiert Volkswirtschaft an der Universität Tôkyô. Sein Beruf als Bankangestellter führt ihn durch verschiedene Städte Japans. Unterbrechung während der Kriegsjahre. Lernt bei seinem Vater Haiku-Dichten. Seine Gedichte erscheinen anfangs in Ashibi („Besenstrauch“), später in Dojô („Auf der Erde“) und Kanrai („Wintergewitter“). Gehört zu den bedeutenden Haiku-Dichtern der Avantgarde, der die Form der 17 Silben verteidigt, das Jahreszeitenwort (kigo) jedoch für verzichtbar hält. 1983–2000 Präsident der „Vereinigung des Gegenwarts-Haiku“ (Gendai haiku kyôkai), seither Ehrenpräsident. 激 論 つ く し 街 ゆ き オ 〡 ト バ イ と 化 す 54 あ ま た の 街 角 街 娼 爭 い 蜜 柑 乾 く 崩 れ 煉 瓦 に 蝶 執 着 す こ ゝ ス ラ ム 港 灣 こ ゝ に 腐 れ ト マ ト と 泳 ぐ 子 供 娼 窟 に 繩 と び の 繩 ち ら ち ら す 霧 の 車 窓 を 廣 島 走 せ 過 ぐ 女 聲 を 擧 げ kiri no shasô wo Hiroshima hasesugu onna koe wo age Am Zugfenster vorbei jagt Hiroshima im Nebel. Frauenstimmen werden laut shôkutsu ni nawatobi no nawa chira-chira su Vor den Dirnen schwingt auf und ab das Hüpfseil der Kinder kôwan koko ni kusare tomato to oyogu kodomo Hier im Hafenbecken faule Tomaten, schwimmen mit den Kindern kuzure renga ni chô shûjaku su koko suramu Zerbrochene Ziegel: Ein Schmetterling klammert sich daran, hier im Slum … amata no machikado gaishô arasoi mikan kawaku An vielen Straßenecken zanken sich Straßenmädchen. Es trocknen Mandarinen gekiron tsukushi machi yuki ôtobai to kasu Nach heißem Wortgefecht geh’ ich durch die Straßen, verwandle mich in ein Motorrad 55 加藤知世子 Katô Chiyoko (1909–1986) Dichterin aus Niigata, eigentlicher Name Yano Chiyose, heiratet 1929 den Dichter Katô Shûson*. Beginnt unter Anleitung der Dichter Murakami Kijô* und Mizuhara Shûôshi* mit dem Haiku-Dichten, veröffentlicht in verschiedenen Zeitschriften und ist seit 1940 Mitarbeiterin der neugegründeten Zeitschrift Kanrai („Wintergewitter“). 笹 鳴 い て 書 體 い つ し か や は ら ぎ ぬ 56 ハ イ フ エ ツ ツ 聽 き つ つ 毛 絲 は 胡 蝶 編 怒 る こ と に 追 は れ て 夫 に 夏 瘦 な し 春 曉 や ノ 〡 ト 抱 い て 夫 眠 る 春 雷 や 乳 兒 の 全 身 笑 ひ に て shunrai ya chigo no zenshin warai nite Frühlingsgewitter – bei jedem Donnerschlag lacht unser Kindchen auf! haru akebono ya nôto idaite tsuma nemuru „Im Frühling die Morgendämmerung“ – mein Mann, die Notizen im Arm, in tiefem Schlaf … okoru koto ni owarete tsuma ni natsuyase nashi Vor lauter Ärger wird er nicht dünner, im Sommer … Haifettsu kikitsutsu keito wa kochô ami Dem Geigenspiel von Heifetz* lauschend, wird alles, was ich stricke, zu Schmetterlingen … sasa naite shotai itsushika yawaraginu Es rauscht das Bambusgras, macht meine Pinselzüge unversehens weicher … * Jascha Heifetz (1901–1987), ein weltberühmter amerikanischer Geigenspieler russisch-litauischer Herkunft. 57 加藤楸邨 Katô Shûson (1905–1993) Sohn eines christlichen Eisenbahnbeamten aus Tôkyô, wird nach Abschluß der Schule zunächst Lehrer, studiert aber als 30jähriger weiter und wird schließlich Professor für Japanische Literatur. Heiratet 1929 Yano Chiyose, später als Haiku-Dichterin unter dem Namen Katô Chiyoko* bekannt. Er publiziert ab 1931 seine Haiku in der Zeitschrift Ashibi („Besenstrauch“) und wird Schüler von Mizuhara Shûôshi*. Ab 1940 Herausgeber einer eigenen Zeitschrift, Kanrai („Wintergewitter“). Reist 1944 mit anderen Dichtern nach Nord-China und schreibt Kriegsgedichte, für die er in Japan kritisiert wird. Veröffentlicht über zehn Haiku-Bände. 疲 れ 寢 の 妻 の 手 う ご く 冬 疊 58 妻 の 名 を 十 日 呼 ば ね ば 浴 衣 さ む し 夢 に 父 と 枯 木 を 見 し が 枯 木 立 つ 火 の 奥 に 牡 丹 崩 る る さ ま を 見 つ In der Nacht des 23. Mai [1945] gab es einen großen Luftangriff, unmittelbar nachdem ich meine Mutter nach Kanazawa in die Evakuation geschickt hatte. Auch unser Haus verbrannte völlig; die ganze Nacht hindurch irrte ich, meinen kranken Bruder auf dem Rücken, umher, auf der Suche nach Michiko und Akio. hi no oku ni botan kuzururu sama wo mitsu Hinter der Flammenwand sah ich, wie die Päonien zugrundegingen Am Todestag meines Vaters yume ni chichi to kareki wo mishi ga kareki tatsu Im Traum sah ich meinen Vater an einem dürren Baum – hier ist der Baum! tsuma no na wo tôka yobaneba yukata samushi Nenn’ meine Frau schon zehn Tage nicht beim Namen – kalter Schlafkimono! tsukarene no tsuma no te ugoku fuyu tatami Erschöpft schläft meine Frau – ihre Hand bewegt sich auf den kalten Winter-Tatami … 59 落 葉 地 に と ど く や 時 間 ゆ る み け り 60 雪 の 中 鴉 の む く ろ 目 を あ け ゐ る 猫 と 生 れ 人 間 と 生 れ 露 に 歩 す 蟻 殺 す わ れ を 三 人 の 子 に 見 ら れ 税 吏 汗 し 敎 師 金 な し 笑 ひ あ ふ zeiri ase shi kyôshi kane nashi waraiau Der Steuerbeamte schwitzt, ich Lehrer hab’ kein Geld – wir beide lachen … ari korosu ware wo sannin no ko ni mirarenu Die Ameisen hab’ ich getötet – meine drei Kinder schauten mir zu … neko to are ningen to are tsuyu ni hosu Ob nun als Katze geboren oder als Mensch – wir stapfen durch den Tau yuki no naka karasu no mukuro me wo ake'iru Im Schnee liegt der Kadaver einer Krähe mit offenen Augen … ochiba chi ni todoku ya jikan yurumikeri Flatterndes Herbstblatt näherst dich der Erde verlangsamst die Zeit … 61 桂信子 Katsura Nobuko (1914–2004) Geboren in Ôsaka als Niwa Nobuko, Angestellte in einem Transportgeschäft. Wird Schülerin des Herausgebers der Zeitschrift Kikan („Flaggschiff“), Hino Sôjô*. Trägt mit der Heirat den Familiennamen Katsura, ihr Mann stirbt jedoch nach nur zweijähriger Ehe. Ab 1938 Mitarbeiterin an mehreren Zeitschriften. Ihr Gedichtstil ist von Yamaguchi Seishi* beeinflusst. 1945 ausgebombt, gelingt es ihr, ihre Manuskripte zu retten. 1949 Mitarbeit an Seigen („Blauer Himmel“) sowie an weiteren Haiku-Zeitschriften. 秋 の 暮 女 ば か り の 衣 を 干 せ り 62 身 近 か な る 男 の 匂 ひ 雨 季 き た る ふ と こ ろ に 乳 房 あ る 憂 さ 梅 雨 な が き や は ら か き 身 を 月 光 の 中 に 容 れ 夫 戀 へ ば 落 葉 音 な く わ が 前 に tsuma koeba ochiba oto naku waga mae ni Als wir uns liebten, fiel ein Blatt vom Baum, lautlos und ganz nah … yawarakaki mi wo gekkô no naka ni ire Ich tauche meinen zarten Körper ganz ins Licht des Mondes … futokoro ni chibusa aru usa tsuyu nagaki Dieser Schmerz, unter dem Kleid meine Brüste zu spüren – Regenzeit, so lang! mijika naru otoko no nioi uki kitaru Wie der Duft eines Mannes an meiner Seite – die Regenzeit hat begonnen aki no kure onna bakari no i wo hoseri Herbstabend. Zum Trocknen häng’ ich jetzt nur Frauenwäsche auf … 63 湯 ほ て り の ひ と と ゆ き あ ふ 寒 の 雨 64 墨 を 磨 る 心 し づ か に 冬 に 入 る 庭 石 に 梅 雨 明 け の 雷 ひ び き け り niwa'ishi ni tsuyuake no rai hibikikeri Über den Steinen des Gartens Gewittergrollen zum Ende der Regenzeit sumi wo suru kokoro shizuka ni fuyu ni hairu Ich reibe Tusche … Mein Herz geht gelassen in die Winterzeit yu hoteri no hito to yukiau kan no ame Ich traf einen Mann, den Kopf noch rot vom heißen Bad – kalter Winterregen! 65 川端茅舍 Kawabata Bôsha (1897–1941) Ursprünglicher Name Kawabata Nobukazu, geboren in Tôkyô, durch den Vater (Kalligraph, Maler und Dichter) beeinflußt, zeigt er schon früh künstlerische Interessen. Bereits als Schüler des Ölbild-Malers Kishida Ryûsei (1891–1929) schickt er seine Haiku an die Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“). Als sein Vater ein Geisha-Haus eröffnet, verläßt er sein Zuhause und beschäftigt sich mit dem Buddhismus. 1923 verliert die Familie im großen Erdbeben all ihre Habe und er tritt in Kyôto in ein Zen-Kloster ein, muß aber sein Mönchsleben wegen Lungentuberkulose aufgeben. Die letzten zehn Jahre seines Lebens bettlägerig, bleibt ihm nur noch das Dichten. 螢 火 に 逢 魔 が 時 は 過 去 り ぬ 66 よ よ よ よ と 月 の 光 は 机 下 に 來 ぬ 白 露 に 薄 薔 薇 色 の 土 龍 の 掌 芭 蕉 葉 や 破 船 の ご と く 草 の 中 bashôba ya hasen no gotoku kusa no naka Ein Bananenblatt – wie das Wrack eines Schiffes liegt es im Gras shiratsuyu ni usu bara'iro no mogura no te Hellrosafarben im weiß-glitzernden Tau – eine Maulwurfspfote yoyo-yoyo to tsuki no hikari wa kika ni kinu Nacht um Nacht fällt der Schein des Mondes unter meinen Tisch hotarubi ni ômagatoki wa sugisarinu Beim Licht der Glühwürmchen das Abendzwielicht ist vergangen … 67 河東碧梧桐 Kawahigashi Hekigotô (1873–1937) Sohn eines konfuzianischen Gelehrten aus Matsuyama, entsprechend mit den Klassikern aufgewachsen. Mit seinem Klassenkameraden Takahama Kyoshi* verbindet ihn eine enge Freundschaft. 1894 gehen sie zusammen nach Tôkyô, wo er Reporter wird. Gehört zum engsten Kreis des großen Haiku-Reformers Masaoka Shiki*, gilt nach dessen Tod als bedeutendster zeitgenössischer Haiku-Dichter Japans. Nach 1912, mit dem Beginn von Kyoshis rigider Verfechtung traditioneller Haiku-Regeln, entsteht ein tiefgreifendes Zerwürfnis. Im Alter, in dem er sich nur noch dem klassischen Haiku Yosano Busons (1716–1783) widmet, lebt er zurückgezogen. 蔭 に 女 性 あ り 延 び の び の こ と 枯 柳 68 春 淺 き 水 を 渉 る や 鷺 一 つ 地 震 知 ら ぬ 春 の 夕 の 假 寢 か な jishin shiranu haru no yûbe no karine kana Vom Erdbeben spürt’ ich, leicht eingeschlummert, nichts – Frühlingsabend! haru asaki mizu wo wataru ya sagi hitotsu Durch das seichte Wasser des Frühlings watet ein Reiher kage ni josei ari nobi-nobi no koto kare yanagi Wegen jenes Mädchens komme ich zu nichts – Weiden im Winter 69 岸風三樓 Kishi Fûsanrô (1910–1982) Eigentlicher Name Sudô Fumio, aus der Präfektur Okayama, studiert zunächst Rechte an der Kansai-Universität und wird dann Beamter des Verkehrsministeriums. Ab 1930 lernt er systematisch Haiku-Dichten bei Yamaguchi Seishi*. 1934 wird er Mitglied des Gedichtzirkels um die Zeitschrift Kyôdai haiku und 1940 mit vielen anderen Dichtern inhaftiert. Von Dichterkollegen wie Tomiyasu Fûsei* gefördert und ermutigt, veröffentlicht er u.a. in der Zeitschrift Wakaba („Frisches Laub“). 夕 燒 寒 む 廢 墟 灯 る と び と び に 70 霧 さ む く 娼 婦 肩 掛 を 長 く せ り 月 夜 々 に 美 し く 春 を 待 ち に け り 蝌 蚪 お よ ぐ い づ れ も 智 慧 の あ る ご と く 門 に 待 つ 母 立 葵 よ り 小 さ し mon ni matsu haha tachi aoi yori chiisashi Am Eingangstor wartet meine Mutter: kleiner noch als die Stockrosen kato oyogu izure mo chie no aru gotoku Kaulquappen schwimmen umher, als hätte jede eigenen Verstand tsuki yo-yo ni kuwashiku haru wo machinikeri Wie der Mond allabendlich die Pracht des Frühlings erwartet! kiri samuku shôfu katakake wo nagaku seri Kühler Herbstnebel – lang hängt dem Straßenmädchen der Umhang von der Schulter yûyake samu haikyo hitomoru tobi-tobi ni Kaltes Abendrot. In den Ruinen Lichter, hier und dort … 71 香西照雄 Kôzai Teruo (1917–1987) Aus einem Bauerndorf der Präfektur Kagawa, schließt seine Literaturstudien an der Universität Tôkyô ab und wird Lehrer, unterbrochen von vier Jahren Kriegsdienst. Seine Haiku-Lehrer sind Takeshita Shizunojo* und Nakamura Kusatao*. Veröffentlicht seine Gedichte in den Zeitschriften Hototogisu („Bergkuckuck“) und Natsukusa („Sommergras“). 花 曇 鐵 の 灰 皿 固 き 椅 子 72 吾 子 尿 る 庭 の 落 花 の 浮 ぶ ま で 寢 れ ば 廣 き わ が 胸 を 打 つ 野 の 薰 風 朝 日 淡 し 厨 の 土 間 に 薔 薇 散 り て 妻 去 つ て 春 雨 の 音 や や 荒 し tsuma satte harusame no oto yaya arashi Meine Frau ist fort – das Rauschen des Frühlingsregens wird heftiger … asahi awashi kuriya no doma ni bara chirite Morgensonne schwach – auf dem Küchenboden verstreute Rosenblätter nereba hiroki waga mune wo utsu no no kumpû Im Schlaf spür’ ich den warmen Südwind von den Feldern an meiner Brust ako ibaru niwa no rakka no ukabu made Mein Sohn im Garten pinkelt auf abgefall’ne Blüten, bis sie dahinschwimmen hanagumori tetsu no haizara kataki isu Blütenduft – um den eisernen Aschenbecher und den harten Stuhl … 73 久保田万太郎 Kubota Mantarô (1889–1963) Aus Tôkyô, wird durch Matsune Tôyôjô* zum Dichten angeregt. Entdeckt früh seine Leidenschaft für das Theater, gewinnt große Bedeutung in Theaterkreisen und beim Aufbau des Radiodramas. Nach dem Studium des Faches Literatur wendet er sich mehr der Prosa zu, widmet sich dann wieder ab 1920 dem Haiku, zwar als Hobby, dennoch mit umfangreichen Werken. Ab 1946 Herausgeber der Zeitschrift Shuntô („Licht in der Frühlingsnacht“). 一 句 二 句 三 句 四 句 五 句 枯 野 の 句 74 提 灯 の 逢 う て わ か れ し お ぼ ろ か な も ち 古 り し 夫 婦 の 箸 や 冷 奴 灰 ふ か く 立 て し 火 箸 の 夜 長 か な ゆ き ぞ ら の 下 に て 瑠 璃 の い ら か 華 奢 初 鶏 や 上 海 ね む る 闇 の 底 hatsutori ya Shanhai nemuru yami no soko Der erste Vogelruf: Shanghai schläft noch in tiefer Dunkelheit yukizora no shita ni ruri no iraka kasha Unter dem Schneehimmel blauglänzend prachtvolle Dachziegel hai fukaku tateshi hibashi no yonaga kana Tief in der Asche stecken die Schüreisen schon – wie lang ist die Nacht! mochifurishi fufu no hashi ya hiya yakko Abgenutzt sind die Essstäbchen des Paares – kalte Tofu-Speise … teitô no aute wakareshi oboro kana Zwei Handleuchten treffen und trennen sich im schwachen Dämmerlicht ikku niku sanku yonku goku kareno no ku Ein Vers und noch einer, drei, vier und fünf Verse – über das öde Land … 75 栗林一石路 Kuribayashi Issekiro (1894–1961) Aus der Präfektur Nagano, geht 19jährig nach Tôkyô, wo er Journalist bei der fortschrittlichen Zeitschrift Kaizô („Umbau“) wird. Tritt mit Ogiwara Seisensui* zusammen für neue, freie Formen des Haiku ein; schließt sich dann der proletarischen Haiku-Bewegung an und kommt während der Unterdrückungskampagne des „Neuen Haiku“ 1941 für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Nach dem Krieg tritt er dem „Neuen Bund der Haiku-Dichter“ (Shin haikujin remmei) bei, deren erster Generalsekretär er wird. Neben seinen Gedichtbänden schreibt er gesellschaftskritische Werke. Stirbt 1961 an Tuberkulose. 妻 の 遺 骨 を 網 棚 に 置 き ね む た く な る 76 い ま は 妻 な し ひ え び え と 靑 き 竹 を 伐 る 兵 營 跡 と こ の 子 は 知 ら ず 夏 草 に メ 〡 デ 〡 の 腕 く め ば 雨 に あ た た か し お 月 さ ん へ 美 し い お し つ こ が 出 る 出 る o-tsuki-san he utsukushii oshikko ga deru-deru Zum guten Onkel Mond steigt es empor, steigt empor – Kinderpinkeln … mêdê no ude kumeba ame ni atatakashi Aufmarsch zum 1. Mai: Die Arme untergehakt, wurde uns im Regen warm … heieiato to kono ko wa shirazu natsukusa ni Von der Kaserne, die hier einst war, wissen die Kinder nichts, im Sommergras ima wa tsuma nashi hie-bie to aoki take wo kiru Jetzt, da meine Frau nicht mehr lebt, schneide ich fröstelnd den jungen Bambus tsuma no ikotsu wo amidana ni oki nemutaku naru Die Asche meiner Frau leg’ ich ins Gepäcknetz – möcht’ nur noch schlafen 77 京極杞陽 Kyôgoku Kiyô (1908–1981) Aus Tôkyô, wo er ein Literaturstudium absolviert. Zeremonienmeister des Kaiserlichen Hofhaushalts. Schüler von Takahama Kyoshi*, Anhänger des traditionellen Haiku und langjähriger Mitarbeiter am Hototogisu („Bergkuckuck“). 一 枚 の 暗 き 簾 も 茶 の 心 78 先 生 の 今 の 愛 孫 手 に 蜜 柑 妻 い つ も わ れ に 幼 し 吹 雪 く 夜 も 骨 壺 に 追 ひ す が る も の 白 き 蝶 春 を 待 ち 我 を 待 つ と の 妻 の 文 haru wo machi ware wo matsu to no tsuma no fumi Den Frühling erwarte sie und auch mich – heißt es im Brief meiner Frau … kotsutsubo ni oisugaru mono shiroki chô Der Urne mit der Asche folgt er flatternd: ein weißer Schmetterling tsuma itsumo ware ni osanashi fubuku yo mo Mir gegenüber gibt sie sich unbeholfen, meine Frau – noch in der Schneesturmnacht sensei no ima no aison te ni mikan Der jetzige Lieblingsenkel des Meisters: in der Hand eine Mandarine ichimai no kuraki sudare mo cha no kokoro Auch dieser eine dunkle Bambusvorhang atmet den Geist des Tees 79 前田普羅 Maeda Fura (1884–1954) Aus Tôkyô. Bricht sein Englischstudium an der Waseda-Universität ab, lernt bei Takahama Kyoshi* und veröffentlicht erstmals 1912 Haiku, die in Hototogisu („Bergkuckuck“) erscheinen. Reist als Journalist häufig im Land umher. Nach seinem Rückzug von Hototogisu widmet er sich mit aller Kraft dem Aufbau der Zeitschrift Kobushi („Kobusmagnolie“), bis er – durch einen Schlaganfall arbeitsunfähig – nach langem Leiden stirbt. 暖 き 秋 野 の 石 に 掌 を お き ぬ 80 秋 山 や 人 が 放 て る 笑 ひ 聲 足 重 き 蒲 團 に こ ぼ す 梅 花 か な 旅 人 は 休 ま ず あ り く 落 葉 の 香 犬 行 く や 吹 雪 の 中 に 尾 を 立 て ゝ 人 來 れ ば お ど ろ き お つ る 桐 の 花 hito kureba odoroki otsuru kiri no hana Kommt jemand nahe, fällt sie erschreckt zu Boden – die Paulownia-Blüte inu yuku ya fubuki no naka ni o wo tatete Ein Hund läuft vorbei im wilden Schneegestöber, hoch aufgerichtet sein Schwanz … tabibito wa yasumazu ariku ochiba no ka Ein Wanderer geht – ohne auszuruhen – durch den Duft des Herbstlaubs … Krank ashi omoki futon ni kobosu baika kana Auf das Bettzeug, das schwer über den Füßen liegt, fallen Pflaumenblüten … akiyama ya hito ga hanateru waraigoe Durch die Herbstlandschaft in den Bergen schallt es – ungehemmtes Lachen! atatakaki akino no ishi ni te wo okinu Auf den Stein im Feld, von der Herbstsonne noch warm, lege ich meine Hand … 81 正岡子規 Masaoka Shiki (1867–1902) Ursprünglicher Name Masaoka Tsunenori, zahlreiche Pseudonyme. Eine der literarischen Größen Japans, Dichter, Poetologe, Essayist und Literaturkritiker, ohne dessen Erneuerungsbemühungen die moderne Lyrik undenkbar wäre. Aus der Stadt Matsuyama auf der Insel Shikoku, verliert mit vier Jahren seinen Vater. Nach einer umfassenden literarischen Bildung geht er an die Universität Tôkyô, bricht jedoch sein Studium ab und wird Reporter bei der Zeitung Nippon. 1889 Ausbruch von Lungentuberkulose, geht dennoch als Kriegsreporter nach China, bricht zusammen und verbringt die letzten sieben Jahre seines Lebens fast nur im Krankenhaus, wo er Gedichte, kritische Essays und poetische Tagebücher schreibt, mit denen er den entscheidenden Anstoß zu einer Haiku-, aber auch zu einer Tanka-Reform gibt. Stirbt im Alter von nur 34 Jahren. Seinen Dichternamen Shiki legt er sich mit dem Auftreten seines Bluthustens zu, auf das Bild dieser Kuckucksart anspielend, der singt, bis sich seine rote Zunge zeigt. Eine andere Aussprache desselben Vogels ist Hototogisu („Bergkuckuck“), der Name der großen literarischen Zeitschrift. 春 の 夜 を 尺 八 吹 い て 通 り け り 82 提 灯 で 大 仏 見 る や 時 鳥 男 許 り 中 に 女 の あ つ さ か な 涼 し さ や 石 燈 籠 の 穴 も 海 乞 食 の 錢 よ む 音 の 夜 寒 哉 kotsujiki no sen yomu oto no yosamu kana Ein Bettler zählt seine Münzen – wie kalt klingt es bei diesem Nachtfrost! suzushisa ya ishidôrô no ana mo umi Sommerliches Kühl – auch durch das Auge der Steinlaterne blickt das Meer otoko bakari naka ni onna no atsusa kana Lauter Männer, eine Frau – die Temperatur steigt unangenehm … chôchin de Daibutsu miru ya hototogisu Mit der Laterne betrachte ich den Großen Buddha. Ein Kuckuck ruft haru no yo wo shakuhachi fuite tôrikeri Geht, die Bambusflöte blasend, jemand vorbei, durch die Frühlingsnacht 83 二 文 投 げ て 寺 の 椽 借 る 涼 み 哉 84 首 あ げ て 折 々 見 る や 庭 の 萩 雲 の 峰 硯 に 蟻 の 上 り け り と も 網 に 蜑 の 子 な ら ぶ 遊 泳 哉 涼 し さ の は て よ り 出 た り 海 の 月 大 名 の 通 つ て あ と の 寒 さ 哉 daimyô no tôtte ato no samusa kana Ein Lehensfürst zog vorüber – welch eine Kälte bleibt zurück … suzushisa no hate yori detari umi no tsuki Der frischen Kühle äußerstem Rand entstieg der Mond über dem Meer … tomotsuna ni kani no ko narabu yûei kana An einem Schiffstau reihen sich Krabbenkinder: nun heißt es schwimmen kumo no mine suzuri ni ari no noborikeri Wolkengebirge – auf meinen Tuschestein klettert die Ameise … kubi agete ori-ori miru ya niwa no hagi Recke mein Haupt, um immer wieder hinzuschauen: Buschklee im Garten nimon nagete tera no en karu suzumi kana Mit ein paar Opfergroschen leih’ ich mir die Kühle unterm Tempeldach 85 松本たかし Matsumoto Takashi (1906–1956) Entstammt einer Familie von Nô-Schauspielern aus Tôkyô. Vom 16. Lebensjahr an immer wieder krank, muss er auf eine Bühnenkarriere verzichten. Lernt 1923 Takahama Kyoshi* kennen, der bestimmend auf seine Dichterkarriere einwirkt. Wird 1929 Mitarbeiter an Hototogisu („Bergkuckuck“). Seit 1946 Herausgeber der Zeitschrift Fue („Flöte“). 湯 女 ど ち と 深 雪 月 夜 を 一 つ 温 泉 に 86 温 泉 を 出 で し 女 體 か く さ ず 雪 嶺 に 湯 女 ど ち の 肌 の 湯 艶 よ 深 雪 晴 女 夫 仲 い つ し か 淡 し 古 茶 い る る 朧 夜 の 山 に 山 火 の 首 飾 り oboroyo no yama ni sanka no kubikazari Dunstige Nacht – die Feuer auf den Bergen ringsum wie eine Halskette … meotonaka itsushika awashi kocha iruru Eheleute – abgestumpfte Gefühle, ohne es recht zu merken, trinken schalen Tee aus: „24 Gedichte während eines Aufenthaltes im Badeort Yuzawa“ yunadochi no hada no yuzuya yo miyuki yado Die feuchtglänzende Haut des Badehausmädchens – Gasthof im tiefen Schnee … yunadochi to miyuki tsukiyo wo hitotsu yu ni Mit dem Badehausmädchen beim Vollmond einer Schneenacht im gleichen Bad! yu wo ideshi nyotai kakusazu setsurei ni Frisch aus dem Bad verbirgt sie nicht ihren Körper, vor den Schneegipfeln … 87 松根東洋城 Matsune Tôyôjô (1878–1964 ) Ursprünglich Matsune Toyojirô, aus Tôkyô, studiert dort und in Kyôto Jura. Wird Zeremonialbeamter des kaiserlichen Hofamtes. Haiku-Unterricht durch Natsume Sôseki*. Zunächst beim Hototogisu („Bergkuckuck“), gehört ab 1920 zum Mitarbeiterkreis der Zeitschrift Shibugaki („Bittere Kaki“). Bleibt unverheiratet und lebt in Einfachheit. 道 白 や 月 を 背 に 坂 な ぞ へ 88 秋 の 灯 の ど れ や チ エ ホ フ の 假 の 宿 ア カ シ ヤ の 花 や 大 陸 第 一 歩 人 戀 へ ば い よ 〳 〵 獨 蚊 帳 か な 晝 寢 よ そ ふ や 聽 き 耳 は 立 て 好 色 話 秋 晴 や 嶺 々 中 の 子 持 の 子 akibare ya reireichû no komochi no ko Strahlender Herbsttag! Dort in den Bergen ein Kind, ein Kind auf dem Rücken … hirune yosou ya kikimimi wa tate sukibanashi Als hielte ich Mittagsschlaf – die Ohren gespitzt: Liebesgeflüster! hito koeba iyo-iyo hitori kachô kana Verliebt bin ich – und fühl’ mich immer einsamer in meinem Mückennetz! In der Mandschurei akashiya no hana ya tairiku dai'ippo Akazienblüten! Hier auf Chinas Festland bei meinem ersten Schritt Auf Sachalin aki no hi no dore ya Chehofu no kari no yado Licht aus Fenstern in der Herbstnacht – welches war Tschechows flüchtige Bleibe? michishiro ya tsuki wo sobira ni saka nazoe Ein weißer Pfad – den Mond im Rücken geht es steil abwärts 89 松瀨西靑々 Matsuse Seisei (1869–1937) Ursprünglich Matsuse Yasaburô, aus Ôsaka stammender Dichter und Schriftsteller, arbeitet zunächst in einer Bank, wendet sich dann mit 28 Jahren der klassischen chinesischen Literatur und der höfischen Dichtung (waka) zu. Wird mit Masaoka Shiki* bekannt. Bald darauf gibt er seine Arbeit als Bankangestellter auf, geht nach Tôkyô und fungiert eine Zeitlang als Mitherausgeber des Hototogisu („Bergkuckuck“). Kehrt später wieder in den Raum Ôsaka zurück, arbeitet an vielen anderen Zeitschriften mit. 凧 ひ ら 〳 〵 港 遊 女 が 母 お も ふ 90 夕 立 は 貧 し き 町 を 洗 ひ 去 る 木 が ら し に 戀 の 黑 猫 眼 ぎ ら 〳 〵 梅 の 花 に ぬ れ て 來 た り し 男 猫 か な 桃 の 花 を 滿 面 に 見 る 女 か な momo no hana wo mammen ni miru onna kana Die Pfirsichblüten besieht sich strahlend eine junge Frau … ume no hana ni nurete kitarishi o-neko kana Von den Pflaumenblüten durchnässt, kommt anspaziert unser Kater! kogarashi ni koi no kuroneko me gira-gira Im kalten Spätherbstwind ein verliebter schwarzer Kater: seine Augen funkeln yûdachi wa mazushiki machi wo araisaru Sommerplatzregen: wäscht das ärmliche Viertel rein – zieht dann weiter … tako hira-hira minato yûjo ga haha omou Flatternde Kinderdrachen! Eine Hafendirne denkt an die Mutter … 91 三橋鷹女 Mitsuhashi Takajo (1899–1972) Ursprünglich Mitsuhashi Taka, aus der Präfektur Chiba. Eine der bedeutenden modernen Haiku-Dichterinnen Japans. Begeistert sich schon von früher Jugend an für Dichter wie Yosano Akiko (1878–1942) und Wakayama Bokusui (1885–1928). 1922, nach der Heirat mit Higashi Kenzô, werden beide Schüler von Hara Sekitei* und publizieren in seiner Zeitschrift Kabiya („Nächtliches Wachtfeuer“). Sie wechselt 1934 zur Zeitschrift Keitôjin („HahnenkammFeldzug“) des Herausgebers Ono Bushi (1888–1943) und ändert ihren Namen in Higashi Takajo. Veröffentlicht weiter in verschiedenen Haiku-Zeitschriften, zuletzt in Bara („Rose“). 死 に が た し 生 き 耐 へ が た し 晩 夏 光 92 春 の 夢 み て ゐ て 瞼 ぬ れ に け り か な し び の 滿 ち て 風 船 舞 ひ あ が る 猫 柳 女 の 一 生 野 火 の ご と 女 の 香 の わ が 香 を き い て ゐ る 涅 槃 onna no ka no waga ka wo kiite iru nehan Meinen Duft, meinen Frauenduft spürt der schlafende Buddha nekoyanagi onna no isshô nobi no goto Katzenweiden – das ganze Leben einer Frau: ein Feuer auf dem Feld kanashibi no michite fûsen maiagaru Trauerbeladen steigt der Luftballon empor, tänzelnd haru no yume mite ite mabuta nurenikeri Frühlingsträume vor Augen – meine geschlossenen Lider voller Tränen … shinigatashi ikitaegatashi bankakô Schwer ist es zu sterben und schwer zu leben, bei diesem Spätsommerlicht … 93 水原秋櫻子 Mizuhara Shûôshi (1892–1981) Aus Tôkyô, Sohn eines Arztes, wird nach einer umfassenden Fachausbildung Professor der Shôwa-Medizinhochschule, dann Mitarbeiter an der Klinik seines Vaters und medizinischer Berater des Kaiserhofes. Nach dem Erscheinen seines ersten Haiku-Bandes löst er sich 1931 von der Hototogisu-Gruppe, da er sich durch Takahama Kyoshi* inhaltlich eingeschränkt fühlt, und gründet eine eigene Zeitschrift Ashibi („Besenstrauch“). Über 20 weitere Haiku-Bände erscheinen. Ab 1952 im Ruhestand, lebt er dem Genuß von Bildungsreisen. 夜 船 待 つ ひ と ま ど ろ み に 蚊 帳 く ら し 94 舟 の 蚊 火 し ば ら く 蓮 を 照 す な り 宵 浅 き 灯 に 絵 団 扇 の 品 さ だ め 靴 脱 に 女 草 履 や 沈 丁 花 椅 子 よ せ て 菊 の か ほ り に も の を 書 く isu yosete kiku no kaori ni mono wo kaku Ich rücke meinen Stuhl in den Duft von Chrysanthemen – und schreibe … kutsunugi ni onna zôri ya jinchôge Am Trittstein des Hauses die Strohsandalen eines Mädchens – süßer Duft von Seidelbast … yoi asaki hi ni e'uchiwa no shina sadame Bemalte Fächer, in der Abenddämmerung schwach beleuchtet – zur Auswahl fune no kahi shibaraku hasu wo terasu nari Das Mückenfeuer des Bootes scheint eine Weile auf die Lotosblüten yofune matsu hito madoromi ni kaya kurashi Warten auf die Nachtfähre – ein Schläfchen im Dunkeln unter dem Mückennetz 95 曇 り 来 て 諸 仏 面 伏 す 雨 蛙 96 天 使 像 く だ け て 初 夏 の 蝶 群 れ を り 螢 火 の 細 藺 に す が る 水 あ か り hotarubi no hosoi ni sugaru mizuakari Glühwürmchen klammern sich an schmale Binsen – spiegeln sich im Wasser tenshizô kudakete shoka no chô mure ori Engelsstatuen verfallen, Frühsommers Schmetterlinge schwärmen aus kumori kite shobutsu omobusu amagaeru Der Himmel bewölkt – die Buddhas neigen ihr Haupt zu den Regenfröschen 97 村上鬼城 Murakami Kijô (1865–1938) In Tôkyô geborener Dichter mit einem tragischen Leben: Er muß sein Studium wegen früher Taubheit abbrechen und lebt 45 Jahre lang mit seiner Familie und zehn Kindern in unvorstellbarer Armut, nachdem er seine Stellung als Schreiber verloren hat und sein Haus abgebrannt ist, abhängig von der Unterstützung durch wohltätige Freunde. Dichten unter dem Einfluß von Masaoka Shiki* ist seine einzige Freude, seine Haiku und literarischen Essays (etwa über den ebenfalls tauben Bashô-Schüler Sampû) erscheinen in Hototogisu („Bergkuckuck“). 小 百 姓 の 醉 う て ね む る や 月 の 秋 98 兩 親 に 一 つ づ つ あ る 湯 婆 か な 埋 火 や 思 ひ 出 る こ と 皆 詩 な り 古 を 好 む 男 の 蕎 麥 湯 か な け ふ の 月 馬 も 夜 道 を 好 み け り 古 沼 に 河 童 の 戀 や 月 朧 furunuma ni kappa no koi ya tsukioboro Im alten Moor lieben sich die Wasserkobolde – dunstverhangen der Mond kyô no tsuki uma mo yomichi wo konomikeri Herrlicher Vollmond! Auch mein Pferd liebt diesen Pfad durch solch eine Nacht inishie wo konomu otoko no sobayu kana Ein Mann, der die gute alte Zeit liebt: Er nimmt ein Buchweizenbad! uzumibi ya omoiizuru koto mina shi nari Glut unter der Asche. Alles, was mir in den Sinn kommt – Poesie ryôshin ni hitotsuzutsu aru tampo kana Meine Eltern, beide haben sie nun eine Wärmflasche … kohyakushô no youte nemuru ya tsuki no aki Betrunken schläft ein armer Bauer – unter dem Herbstmond 99 永田耕衣 Nagata Kôi (1900–1997) Aus der Präfektur Hyôgo, wird Maschineningenieur und später Produktionschef einer Papierfabrik. Beschäftigt sich intensiv mit dem Zen-Buddhismus. Dichtet Haiku seit 1916 und entfaltet nach und nach eine umfangreiche literarische Tätigkeit als Mitarbeiter von zahlreichen Zeitschriften und Herausgeber einer eigenen, Riraza („Gilde der Lyra“). Greift zurück auf Bashôs Vorstellungen des Haiku und kritisiert die Sichtweise des Hototogisu („Bergkuckuck“). Mit seiner ungewöhnlichen und humorvollen Ausdrucksweise findet er große Unterstützung bei den Anhängern des freien Haiku. 尿 の 出 て 身 の 存 續 す 麥 の 秋 月 遠 し 胸 に 抱 き し め ゐ る 孫 も 退 職 す 海 行 く 鯛 と 同 じ 向 き に 靑 稻 を バ ス 浮 か れ 行 く 世 は 一 ト 時 100 蝶 越 ゆ る 土 塀 の 厚 味 命 短 か し chô koyuru dobei no atsumi inochi mijikashi Wie dick die Mauer, die der Schmetterling überfliegt – und wie kurz sein Leben … ao'ine wo basu ukareyuku yo wa hitotoki Grüne Reishalme vom Bus zum Wogen gebracht – wie flüchtig die Welt taishoku su umi yuku tai to onaji muki ni Rentner-Dasein: wie eine Goldbrasse, die durch das Meer zieht tsuki tôshi mune ni dakishime iru mago mo Weit entrückter Mond … Das Enkelkind klammert sich fest an meine Brust nyô no dete mi no sonzoku su mugi no aki Man hat seine Notdurft, setzt sein Leben fort. Kornernte im Herbst 101 内藤鳴雪 Naitô Meisetsu (1847–1926) Ursprünglicher Name Naitô Motoyuki. Anfangs Beamter des Fürstentums Matsuyama, später am Kultusministerium tätig, gibt das Amt nach dem Attentat auf den Kultusminister Mori Arinori (1889) auf. Gehört zum Kreis der Haiku-Reformer und Kritiker um Masaoka Shiki*. 里 の 女 や 蠶 飼 の 神 の 朝 詣 102 行 水 の 巫 女 に 慣 れ よ る 小 鹿 か な 冬 の 夜 や 子 犬 啼 き よ る 窓 明 り 木 枯 や 空 に こ ろ が る 月 ひ と つ 元 日 や 一 系 の 天 子 不 二 の 山 ganjitsu ya ikkei no tenshi Fuji no yama Neujahrstag! Uralte Tennô-Dynastie, einzigartiger Fuji kogarashi ya sora korogaru tsuki hitotsu Eisiger Wind! Über den Himmel rollt ein einziger Mond fuyu no yo ya koinu nakiyoru madoakari Kalte Winternacht! Im Schein des Fensters drängen sich winselnd Welpen gyôzui no miko ni nareyoru kojika kana Dem Bad der Tempeljungfrauen nähert sich vertraut ein Rehkitz sato no me ya kogai no kami no asa môde Die Frau aus dem Dorf pilgert zum Gott der Seidenraupen am Morgen 103 中島斌雄 Nakajima Takeo (1908–1988) Aus Tôkyô stammend, begeistert sich schon seit seiner Mittelschulzeit für Haiku-Dichtung. Wird als Student Mitglied der Haiku-Gruppe an der Universität Tôkyô. Von Takahama Kyoshi* angeregt, erscheinen seine Gedichte in der Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“). Auch von Hara Sekitei* und Mizuhara Shûôshi* beeinflusst. 友 來 ぬ と き め て 春 雪 霏 々 と 降 る 104 小 麥 粉 の 庫 に て 午 睡 一 人 な ら ず 砂 日 傘 黄 色 の 女 よ こ た は る 孤 り の 夜 手 に や は ら か く 蛾 の 翅 風 夜 汽 車 暑 く 發 ち ゆ く ジ ヤ ズ が 追 ひ か け る ジ エ ツ ト 機 へ な げ う つ 海 盤 車 光 る 秋 jetto-ki he nageutsu hitode hikaru aki Zum Düsenflieger empor werfe ich den Seestern – in den strahlenden Herbst! yogisha atsuku tachiyuku jazu ga oikakeru Der Nachtzug fährt ab in der Hitze, Jazz-Musik jagt ihm hinterher … hitori no yo te ni yawarakaku ga no hakaze Einsame Nacht: ein Falter zart auf meiner Hand Hauch seines Flügelschlags sunahigasa kiiro no onna yokotawaru Sandstrand mit Sonnenschirm: gelb gekleidet liegt dort eine Frau … komugiko no kura nite gosui hitori narazu In der Mehlkammer ein Mittagsschläfchen gemacht – doch nicht allein! tomo konu to kimete shunsetsu hihi to furu Jetzt kommt sie nicht mehr – meint der Frühlingsschnee und fällt in dichten Flocken 105 中村草田男 Nakamura Kusatao (1901–1983) Sohn eines Diplomaten, geboren in Amoy (China), wächst in Matsuyama auf und studiert an der Universität Tôkyô Germanistik. Großes Interesse an Nietzsche, Hölderlin, Dostojewski und Tschechow, schreibt seine Doktorarbeit 1933 jedoch über Masaoka Shiki*. Arbeitet 34 Jahre lang als Lehrer an verschiedenen Schulen. Seit 1928 dichtet er Haiku. Von Takahama Kyoshi* in die Haiku-Gruppe der Universität Tôkyô eingeführt, wird er Mitarbeiter der Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“). Ab 1946 hat er eine eigene Zeitschrift, Banryoku („Sommerliches Grün“). Er schreibt auch Novellen, die er Märchen nennt. 妻 戀 し 炎 天 の 岩 石 も て 擊 ち 106 月 に 飛 び 月 の 色 な り 草 か げ ろ ふ 夕 汽 笛 一 す ぢ 寒 し い ざ 妹 へ 乳 母 車 搖 る る 林 檎 を 持 ち つ づ け 母 老 い ぬ 裸 の 胸 に 顏 の 影 haha oinu hadaka no mune ni kao no kage Meine Mutter so alt. Auf der nackten Brust der Schatten des Gesichts ubaguruma yururu ringo wo mochitsuzuke Den Kinderwagen schaukelt die Amme, fest in der Hand den Apfel yû kiteki hitotsuji samushi iza imôto he Dampfsirene am Abend – ein langer, kalter Ton. Auf zur Geliebten! tsuki ni tobi tsuki no iro nari kusakagerô Fliegen auf den Mond zu, mondfarben – Goldaugen aus dem Gebüsch tsuma koishi enten no ganseki mote'uchi Eine Frau lieben: In den flimmernden Himmel Felsbrocken schleudern 107 永 久 に 生 き た し 女 の 聲 と 蟬 の 音 と 108 葡 萄 食 ふ 一 語 一 語 の 如 く に て 頭 を 伏 せ し 蜥 蜴 と 聽 け り 日 の 言 葉 zu wo fuseshi tokage to kikeri hi no kotoba Den Kopf geneigt die Eidechse, mit der ich der Sonne lausche budô kuu ichigo ichigo no gotoku nite Weintrauben essen – als äße man sie Wort für Wort … towa ni ikitashi onna no koe to semi no ne to Weiterleben wollt’ ich mit der Stimme einer Frau und Zikadenzirpen … 109 中村汀女 Nakamura Teijo (1900–1988) Eigentlich Nakamura Hamako, aus Kumamoto, wo sie die Höhere Töchterschule absolviert. Sie dichtet von ihrem 18. Lebensjahr an. 1920 Heirat mit Nakamura Shigeki. Gehört zum Kreis der Hototogisu-Dichter. Nach längerer Unterbrechung gründet sie 1947 die Zeitschrift Kazahana („Verwehte Schneeflocken“). 遊 女 屋 の あ な 高 座 敷 星 祭 110 噴 水 の ま し ろ に の ぼ る 夜 霧 か な あ は れ 子 の 夜 寒 の 床 の 引 け ば 寄 る 春 泥 や 赤 い 足 袋 の 子 馳 せ お く れ 夜 の 雪 の 小 車 の 荷 に 顏 を 寄 せ yo no yuki no oguruma no ni ni kao wo yose Nächtlicher Schnee auf der Ladung des kleinen Karrens – ich kühl’ mein Gesicht daran shundei ya akai tabi no ko haseokure Frühlingsmatsch: in roten Socken läuft ein Kind hinter den anderen her … aware ko no yosamu no toko no hikeba yoru Armes Kind! Bekommt im Schlaf die Decke weggezogen, rückt näher heran … funsui no mashiro ni noboru yogiri kana Hellweiß steigt die Fontäne empor – hoch in den nächtlichen Himmel … yûjoya no ana takazashiki hoshimatsuri Im besten Saal des Bordells feiern sie das Fest der Liebessterne! 111 中塚一碧樓 Nakatsuka Ippekirô (1887–1946) Aus Okayama, geht 20jährig nach Tôkyô, bricht jedoch sein Studium an der WasedaUniversität ab. Trifft dort mit dem Kreis der Haiku-Reformer um Kawahigashi Hekigotô* zusammen, in dessen Haiku-Kolumne Nihon haiku seine frühen Gedichte erscheinen. Vorkämpfer des „freien Haiku“ hinsichtlich Form und Themen, in dem die Umgangssprache verwendet wird, tritt er für die Entwicklung eines persönlichen Stils in den Gedichten ein und stellt sich gegen die Übermacht mancher Haiku-Zeitschriften. Später, nach seiner Erstlingssammlung „Hakagura“ (1913), gründet er die Zeitschrift Kaikô („Meeresrot“). Es folgen sechs weitere Sammlungen. Einer der Theoretiker und Kritiker innerhalb der Bewegung um Kawahigashi Hekigotô. 炭 の に ほ ひ す 故 人 爐 の 端 へ 來 る 112 處 女 が せ ま い 〳 〵 芒 の 道 の よ ろ こ び ト ル コ の よ う な 浴 場 が 欲 し い 場 末 の 秋 だ 草 靑 々 牛 は 去 り kusa aoao ushi wa sari Das Gras knallgrün – die Kuh wendet sich ab toruko no yô na yu ga hoshii basue no aki da Wie wünscht’ ich mir jetzt so ein türkisches Bad! Vorstadt im Herbst … shojo ga semai-semai susuki no michi no yorokobi Ein Mädchen zwängt sich hindurch: die Freude eines von Stielblütengras gesäumten Hohlwegs sumi no nioi su kojin ro no hashi he kuru Holzkohlenduft – die Geister der Toten rücken näher an die Feuerstelle heran 113 夏目漱石 Natsume Sôseki (1867–1916) Ursprünglich Natsume Kinnosuke, aus Tôkyô, einer der bedeutendsten Schriftsteller des modernen Japan. Studiert Architektur und Englische Literatur und verbringt nach seinem Studienabschluß zwei wegen Armut sehr unangenehme Jahre in London, wird schließlich Professor an der Universität Tôkyô. Von seinem Freund Masaoka Shiki* zum Dichten angeregt, veröffentlicht er seinen ersten Roman in Hototogisu („Bergkuckuck“). 1907 reicht er seinen Rücktritt ein, um sich ausschließlich dem Schreiben zu widmen. Das Haiku-Dichten betrachtet er als „FingerÜbung“ – und verfaßt über 2.500 Gedichte. 梅 ち る や 月 夜 に 廻 る 水 車 114 時 雨 る ゝ や 泥 猫 眠 る 経 の 上 白 蓮 に い や し か ら ざ る 朱 欗 か な 有 る 程 の 菊 抛 げ 入 れ よ 棺 の 中 aruhodo no kiku nageireyo kan no naka Die vielen Chrysanthemen da, werft sie doch alle in den Sarg! Am Teich des Schreins von Tsurugaoka byakuren ni iyashikarazaru shuran kana Neben den weißen Lotosblüten, nicht zu grell, das rote Schreingeländer shigururu ya doroneko nemuru kyô no ue Herbstregen! Schmuddelnaß schläft die Katze auf meinem Sutren-Heft ume chiru ya tsukiyo ni mawaru mizuguruma Fallende Pflaumenblüten. Darunter dreht sich im Mondschein ein Mühlrad … 115 菫 程 な 小 さ き 人 に 生 れ た し 116 肩 に 來 て 人 懷 か し や 赤 蜻 蛉 朧 夜 や 顔 に 似 合 ぬ 恋 も あ ら ん oboroya ya kao ni awanu koi mo aran In dunstiger Mondnacht: Die zwei Gesichter passen nicht zusammen, lieben sich doch Lieber als die Menschen – den Himmel; lieber als Worte – Schweigen kata ni kite hito natsukashi ya akatombo Nähert sich meiner Schulter, sehnt sich nach Menschenwärme – die rote Libelle sumire hodo na chiisaki hito ni umaretashi Als Mensch in Veilchengröße möchte ich wiedergeboren werden 117 野澤節子 Nozawa Setsuko (1920–1995) Dichterin aus Yokohama. Kann die Mittelschule wegen Krankheit nicht beenden. Auf ihrem Krankenlager durch die Lektüre von Bashôs Gedichten und durch Ôno Rinkas* Haiku angeregt, beginnt sie selbst zu dichten. Ihre ersten Haiku erscheinen im Shakunage („Rhododendron“), später in der von ihr selbst herausgegebenen Zeitschrift Hama („Strand“). 飛 雪 い よ い よ は げ し 吾 れ の み 見 の こ り で 118 壺 に 眞 白 降 雪 前 に 切 り し 梅 醫 師 去 つ て 初 霜 の 香 の 殘 り け り 外 燈 下 乙 女 ひ ら り と 過 ぎ 涼 し 袖 か さ ね 寒 き わ が 胸 抱 く ほ か な し 迷 ふ 蟻 追 ふ も 殺 す も ひ と り の 吾 mayou ari ou mo korosu mo hitori no ware Die verirrte Ameise töten oder verjagen – ich bleib’ allein sode kasane samuki waga mune daku hoka nashi Die Ärmel übereinandergelegt, meinen kalten Leib zu umarmen – was bleibt mir sonst gaitô shita otome hirari to sugi suzushi Im Laternenlicht geht flink ein Mädchen vorbei – angenehme Kühle ishi satte hatsushimo no ka no nokorikeri Der Arzt ist gegangen – der Duft des ersten Frostes blieb zurück … tsubo ni mashiro kôsetsu mae ni kirishi ume In der Vase Pflaumenblüten – geschnitten noch vor dem blendend-weißen Schnee hisetsu iyo-iyo hageshi ware nomi minokori de Das Schneetreiben wurde zum Schneesturm – ich allein bleib’ und schaue … 119 荻原井泉水 Ogiwara Seisensui (1884–1976) Aus Tôkyô, absolviert die Universität Tôkyô mit den Fächern Linguistik und Deutsche Literatur, übersetzt Goethe und verficht mit Kawahigashi Hekigotô* einen neuen, freien, nicht silbengebunden Haiku-Stil. Sein Organ wird die Zeitschrift Sôun („Wolkenbänder“). Entgegen Masaoka Shikis* Buson-Liebe ist er mehr von Bashô und der Menschennähe eines Issa eingenommen. Zu seinen Schülern zählen Ozaki Hôsai* und Taneda Santôka*. Schicksalsschläge Anfang der 20er Jahre (Frau und Kind sterben im großen Erdbeben 1923, seine Mutter im gleichen Jahr) intensivieren seine dichterische und schriftstellerische Tätigkeit (ca. 300 Kurzstudien). Ausgedehnte Wanderungen durch ganz Japan. 和 尚 桃 の 一 枝 う ち の 子 に わ た し て 後 ろ 姿 か え る 120 日 の 湯 月 の 湯 ふ ぐ り も つ 者 乳 房 も つ 者 そ れ ぞ れ に は い る ふ た り だ け の 月 の 世 界 を お も う と き 地 ふ る ふ 夜 半 の 深 き 井 戸 水 を 釣 る 花 み か ん の 香 に 雨 は る る 巡 禮 笠 力 い っ ぱ い に 泣 子 と 鳴 く 鳥 と の 朝 chikara ippai ni naku ko to naku tori to no asa Ein Morgen ist das – es schreien aus voller Kraft Hähne und Babys! hanamikan no ka ni ame haruru junreigasa Im Duft von Mandarinenblüten klärt sich der Himmel über Pilgerhüten aus: „11 Gedichte anläßlich des Großen Bebens von 1923“ tsuchi furuu yahan no fukaki ido mizu wo tsuru Die Erde bebt – um Mitternacht aus tiefem Brunnen schöpf’ ich Wasser futari dake no tsuki no sekai to omou toki In diesem Augenblick gehört die ganze Mondscheinwelt uns beiden nur hi no yu tsuki no yu fuguri motsu mono chibo motsu mono sorezore ni Quellbad bei Sonne, Quellbad bei Mond – die einen mit Hoden, die andern mit Brüsten, jeweils für sich oshô momo no isshi uchi no ko ni watashite ushirosugata kaeru Ein Mönch – gab unserem Kind einen Pfirsichblütenzweig, zurück sieht man ihn gehen … 121 は だ か 月 を も よ う す 122 石 の ま ろ さ 雪 に な る 雨 降 る 蛙 の 池 が 笑 ふ 老 い て 老 梅 を 愛 し こ と し 大 い に ひ ら く 太 陽 と 石 上 の 蛇 人 ひ と り 無 し 朝 は す こ し 冷 え る こ と を 湯 女 と 蜆 の か ら asa wa sukoshi hieru koto wo yuna to shijimi no kara An diesem Morgen fröstelt mich beim Blick auf das Bademädchen und leere Muschelschalen … taiyô to ishiue no hebi hito hitori nashi Sonnenschein, auf dem Stein eine Schlange – kein einziger Mensch … oite rôbai wo aishi kotoshi oi ni hiraku Immer mehr lieb’ ich den alten Pflaumenbaum, so schön in diesem Jahr ame furu kawazu no ike ga warau Es regnet. Der Teich mit seinen Fröschen lacht ishi no marosa yuki ni naru Das Rund der Steine wird zu Schnee hadaka tsuki wo moyôsu Nackt – spüre ich den Mond in mir! 123 及川貞 Oikawa Tei (1899–1993) Nach Abschluß ihrer Studien an einem Gymnasium für Höhere Töchter beginnt die Dichterin aus Tôkyô sich mit Haiku zu beschäftigen. Schülerin des Mizuhara Shûôshi*. 1938 wird sie Mitarbeiterin der Zeitschrift Ashibi („Besenstrauch“). Sie verliert zwei Töchter im Krieg. Als Kennerin der Tee-Zeremonie bekannt. 子 の 船 を い つ ま で 沖 の 霧 が つ ゝ む 124 朝 ご ゝ ち み だ す も の な く 落 葉 焚 く 灯 と も さ ず 入 り て 十 六 夜 温 泉 こ ぼ す 夜 蛙 の 門 を と ざ し に 來 て 暫 し 廚 ご と 終 へ し 手 拭 け ば ほ と と ぎ す kuriyagoto oeshi te fukeba hototogisu Die Küchenarbeit beendet – beim Händetrocknen ruft der Kuckuck yo-kawazu no kado wo tozashi ni kite shibashi Ihr Frösche der Nacht kommt mein Tor zu verschließen für eine Weile! hi tomosazu irite izayoi deyu kobosu Mache kein Licht im Bad, bei fast vollem Mond – das heiße Wasser läuft über … asagokochi midasu mono naku ochiba taku Meine Morgenstimmung lass’ ich mir nicht verderben beim Laubverbrennen Bei der Begrüßung meiner Tochter Hiroko, die von einem Studium in Übersee zurückkehrte ko no fune wo itsu made oki no kiri ga tsutsumu Wie lange verbirgt er noch das Schiff mit meinem Kind – dichter Nebel auf dem offenen Meer … 125 大野林火 Ôno Rinka (1904–1982) Dichter, Kritiker und Essayist aus Yokohama, absolviert ein volkswirtschaftliches Studium, später bis 1947 im Schuldienst. Seine ersten Werke, dabei auch Kritiken, erschienen in Shakunage („Rhododendron“). Seit 1923 Schüler des Usuda Arô*. 1936 gründet er die Zeitschrift Hama („Strand“). Von 1953–1956 Herausgeber der Zeitschrift Haiku beim Verlag Kadokawa. 母 の 咳 道 に て も 聞 え 悲 し ま す 126 ね む り て も 旅 の 花 火 の 胸 に ひ ら く 月 の 街 燈 に 強 弱 の あ る あ は れ 早 乙 女 を 晝 見 き ゆ ふ べ 月 を 見 き と も に 裸 身 と も に 浪 聽 き 父 子 な る tomo ni rashin tomo ni nami kiki oyako naru Lauschen beide der Brandung, beide nackt – ein Vater mit seinem Sohn saotome wo hiru miki yûbe tsuki wo miki Tagsüber den Mädchen beim Setzen der Reispflanzen – abends dem Mond zugeschaut! tsuki no machi hi kyôjaku no aru aware Das Straßenlicht unterm Mond flackert, mal hell, mal dunkel – ist das nicht traurig! nemuritemo tabi no hanabi no mune ni hiraku Feuerwerksblüten, die ich unterwegs sah, blühen mir auch im Schlaf noch haha no seki michi nitemo kikoe kanashimasu Der Husten meiner Mutter entlang der Straße – bedrückend hört es sich an 127 梅 雨 見 つ め を れ ば う し ろ に 妻 も 立 つ 128 無 月 の 濱 白 浪 あ り て さ び し か ら ず 晝 酒 の 唄 や 枯 野 へ 筒 拔 け に 本 買 へ ば 表 紙 が 匂 ふ 雪 の 暮 繪 を 溢 る る 赤 を 寒 夜 の よ ろ こ び に e wo afururu aka wo kan'ya no yorokobi ni Das überfließende Rot dieses Bildes – Freude dieser kalten Nacht hon kaeba hyôshi ga niou yuki no kure Kaufe ein Buch und genieß’ den Geruch des Umschlags – Abend eines Schneetags hiruzake no uta ya kareno he tsutsunuke ni Das Lied der Zecher schallt schon früh am Mittag weithin aufs öde Land mugetsu no hama shiranami arite sabishikarazu Der Meeresstrand mondlos, weiße Wellenkämme, fühle mich nicht einsam tsuyu mitsume oreba ushiro ni tsuma mo tatsu Langer Regenmonat … Ich starre hinaus, hinter mir meine Frau 129 大須賀乙字 Ôsuga Otsuji (1881–1920) Haiku-Dichter und -Kritiker der Schule von Kawahigashi Hekigotô* aus der Präfektur Fukushima. Studiert japanische Literatur an der Universität Tôkyô und geht anschließend in den Schuldienst. Seine Gedichte erscheinen zunächst in Tageszeitungen, später in verschiedenen Haiku-Zeitschriften wie Sôun („Wolkenbänder“), Shakunage („Rhododendron“) und Kaikô („Meeresrot“), an einigen dieser Zeitschriften ist er mit befreundeten Dichtern zusammen ständiger Mitarbeiter. 朝 顏 に 起 き ぬ け し 兒 の 破 顏 か な 130 秋 晴 や 畑 仕 事 し て 柿 の 味 雷 止 ん で 凉 し き 夜 の 枕 か な 砂 丘 行 く 風 の 砂 立 た ず 夏 の 月 待 つ 春 や 病 忘 れ の 膳 仕 度 matsu haru ya yami wasure no zenshitaku In Erwartung des Frühlings richt’ ich das Neujahrsessen und vergess’ dabei meine Leiden … sakyû yuku kaze no suna tatazu natsu no tsuki Über die Dünen streicht Wind, kein Sandkorn regt sich – Sommermond rai yande suzushiki yoru no makura kana Das Donnern verhallt, kühler jetzt die Nacht auf meinem Kissen … akibare ya hatake shigoto shite kaki no aji Herbstklarer Tag – während der Feldarbeit im Munde der Geschmack der Kaki-Früchte! asagao ni okinukeshi ko no hagan kana Wegen der Trichterwinde strahlt, eben erwacht, ein Kindergesicht! 131 尾崎放哉 Ozaki Hôsai (1885–1926) Aus Tottori, studiert zunächst Jura an der Universität Tôkyô und wird dann Angestellter einer Lebensversicherung. Schon früh unter dem Einfluß der Haiku-Dichtung des Ogiwara Seisensui*. Innere Leere und Alkoholprobleme bewegen ihn, seine Frau und Tôkyô zu verlassen. Lebt als Mönch, dann als Tempeldiener in Klöstern der Gegend um Kyôto, Ôsaka und Nara, und beginnt, Haiku zu dichten. Als Thema wählt er seine Tage in Einsamkeit und die Betrachtung seines Lebens und kümmert sich nicht um traditionelle Haiku-Vorschriften. Zieht sich auf eine kleine Insel in der japanischen Inlandsee zurück, wo er 1926 stirbt. Seine Anthologie Taikû („Große Leere“) erscheint erst nach seinem Tod. 鐘 つ い て 去 る 鐘 の 餘 韻 の 中 132 わ が 肌 を も む あ ん ま 何 を 思 ひ つ つ 淋 し い ぞ 一 人 五 本 の ゆ び を 開 い て 見 る 眼 を や め ば 片 目 淋 し く 手 紙 書 き 居 る 夜 の 木 の 肌 に 手 を 添 へ て 待 つ 疊 を 歩 く 雀 の 足 音 を 知 つ て 居 る tatami wo aruku suzume no ashioto wo shitte iru Über die Matten hüpft ein Sperling – welch ein vertrautes Geräusch yoru no ki no hada ni te wo soete matsu Die Hand auf der Rinde eines Baumes warte ich hier in der Nacht me wo yameba katame sabishiku tegami kakioru Mein Auge schmerzt, traurig schreibe ich mit dem anderen weiter … sabishii zo hitori gohon no yubi wo hiraite miru Wie einsam bin ich doch! Ich spreize die fünf Finger an meiner Hand waga hada wo momu amma nani wo omoitsutsu Der blinde Mann, der mich massiert – woran er wohl denken mag kane tsuite saru kane no yoin no naka Nach dem Anschlagen der Glocke gehe ich in ihrem Nachklang weg 133 す ば ら し い 乳 房 だ 蚊 が 居 る 134 お 祭 り 赤 ン 坊 寢 て ゐ る 乞 食 日 の 丸 の 旗 の ふ ろ し き も つ 春 が 來 た と 大 き な 新 聞 廣 告 障 子 に 近 く 蘆 枯 る る 風 音 靜 か な る か げ を 動 か し 客 に 茶 を つ ぐ も や の 中 水 音 逢 ひ に 行 く な り moya no naka mizuoto ai ni yuku nari Im Nebel geh ich, dem Rauschen des Wassers zu begegnen shizuka naru kage wo ugokashi kyaku ni cha wo tsugu Dem stillen Schatten flöße ich Leben ein: schenke dem Gast Tee nach … shôji ni chikaku ashi karuru kazeoto Nahe den Schiebetüren vertrocknet das Schilf – man hört es bei Wind haru ga kita to ôkina shimbun kôkoku „Der Frühling ist da!“ schreibt in großer Aufmachung die Zeitungsanzeige kojiki hi no maru no hata no furoshiki motsu Der Bettler hat ein Tragetuch aus dem Stoff der Nationalflagge! o-matsuri akambô nete iru Schreinfest – das Wickelkind in tiefem Schlaf! subarashii chibusa da ka ga iru Prächtige Frauenbrüste – darauf eine Mücke! 135 西東三鬼 Saitô Sanki (1900–1962) Sohn eines Schulinspektors aus der Präfektur Okayama. Läßt sich als Zahnarzt ausbilden und praktiziert bis 1929 in Singapur, danach in Tôkyô, wo um 1932 sein Interesse an HaikuDichtung geweckt wird. Seine Haiku gehören zur Avantgarde-Dichtung. 1940 kommt er bei der Unterdrückungskampagne gegen die „Neue Haiku-Bewegung“ aufgrund seiner antinationalistischen Haltung für mehrere Monate ins Gefängnis und muß zusichern, seine dichterischen Aktivitäten einzustellen. Nach dem Krieg aktiver Mitarbeiter bei mehreren Zeitschriften, insbesondere bei Yamaguchi Seishis* Tenrô („Sirius“), wird dann Herausgeber der Zeitschrift Haiku. 戀 過 ぎ し 猫 よ と か げ を 食 ひ 太 れ 136 行 列 や 嬰 兒 拳 を 立 て て 泣 く 狂 院 を め ぐ り て 暗 き 盆 踊 寒 夜 明 る し 別 れ て 少 女 馳 け 出 だ す 夜 の 湖 あ あ 白 い 手 に 燐 寸 の 火 yoru no umi â shiroi te ni matchi no hi Nächtliches Meer – das flackernde Licht des Streichholzes auf deiner weißen Hand kan'ya akarushi wakarete shôjo kake'idasu Helle eiskalte Nacht. Schnell läuft das Mädchen fort, von dem ich mich trennte kyôin wo megurite kuraki bon'odori Rundgang durchs Irrenhaus: Sie feiern das Bon-Fest mit einem Tanz im Dunkeln … gyôretsu ya eiji kobushi wo tatete naku Eine Prozession! Das Kind in Windeln ballt seine Faust und weint koisugishi neko yo tokage wo kuifutore Du Kater – einst so liebestoll! Friss jetzt Eidechsen und werde wieder fett … 137 水 枕 ガ バ リ と 寒 い 海 が あ る 138 女 あ た た か 氷 柱 の 雫 く ぐ り 出 で 海 に 足 浸 る 三 日 月 に 首 吊 ら ば 身 に 貯 へ ん 全 山 の 蝉 の 聲 對 岸 の 人 と 寒 風 も て つ な が る taigan no hito to kampû mote tsunagaru Mit dem am Ufer gegenüber verbunden durch den kalten Wind … mi ni takuwaen zenzan no semi no koe Ansammeln möcht’ ich in mir das Gesirr der Zikaden eines ganzen Berges umi ni ashi shitaru mikazuki ni kubitsuraba Meine Füße tauchten schon ins Meer – erhängte ich mich an der Mondsichel … onna atataka tsurara no shizuku kuguriide Wärme einer Frau – der Eiszapfen beginnt, sich in Tropfen aufzulösen Auf dem Krankenlager mizumakura gabari to samui umi ga aru Das Wasserkissen bringt gluckernd mir die ewige Kälte des weiten Meeres 139 佐藤鬼房 Satô Onifusa (1919–2002) Aus Kamaishi, absolviert die Höhere Volksschule, wird Eisenbahnarbeiter und Mechaniker. Veröffentlicht seine ersten Werke in der Zeitschrift Ku to hyôron („Haiku-Vers und Kritik“). Nach dem Krieg erhält er seine weitere Ausbildung bei Saitô Sanki*, der zu den 1940 in Kyôto inhaftierten Haiku-Dichtern gehört hatte. Seine Gedichte erscheinen in Zeitschriften wie Raikô („Blitz“), Yatôha („Nachträuber“), Tenrô („Sirius“) und Kaze („Wind“). Mitglied verschiedener Haiku-Gruppen. 子 の 寢 顏 這 う 螢 火 よ 食 え ざ る 詩 140 こ の 飢 え や 遠 く に 山 羊 と 蹴 球 と 父 の 方 へ か け く る 童 女 花 了 う 樹 戰 火 や ま ず い つ わ り な き は 嬰 兒 の 便 貧 窶 の 口 あ け て 虹 仰 ぐ 妻 hinku no kuchi akete niji aogu tsuma Mit dem offenen Mund der Armut schaut meine Frau zum Regenbogen senka yamazu itsuwari naki wa eiji no ben Gefechtsfeuer, das nicht endet … Die Wahrheit zeigt sich in den Windeln des Säuglings chichi no hô he kakekuru dôjo hana shimau ki Zum Vater läuft das kleine Mädchen hin – ein Baum, der schon verblüht ist kono ue ya tôku ni yagi to shûkyû to Ach, dieser Hunger! In der Ferne Ziegen und Fußballspiel ko no negao hau hotarubi yo kuezaru shi Überm Kindergesicht im Schlaf kriecht ein Glühwürmchen – ein Gedicht, nicht essbar 141 澤木欣一 Sawaki Kin'ichi (1919–2001) Aus Toyama, aufgewachsen in Korea, zwei Kriegsjahre in der Mandschurei. Studiert an der Universität Tôkyô das Fach Literatur. Beschäftigt sich seit seiner Studentenzeit mit HaikuDichtung, beeinflusst durch Katô Shûson* und Nakamura Kusatao*. Einer der bedeutendsten Haiku-Dichter in den 20er-Jahren und nach dem Krieg. Mitarbeiter an den Zeitschriften Kanrai („Wintergewitter“) und Tenrô („Sirius“), gründet 1946 die Zeitschrift Kaze („Wind“), eine einflussreiche Zeitschrift des Haiku im neuen Stil. Lehrt an der Universität Kanazawa. Von 1987 bis 1993 Präsident der „Vereinigung der Haiku-Dichter“ (Haijin kyôkai). 一 呼 吸 ご と 海 女 の 面 紅 潮 す 142 笹 鳴 や 滿 月 登 る 富 士 の 肌 バ ケ ツ に 百 合 煙 草 を 買 い に 産 屋 よ り 指 と ど く バ ラ ッ ク の 屋 根 薔 薇 の 箱 梨 賣 り の 頰 照 ら し 過 ぐ 市 電 の 燈 nashiuri no ho terashisugu shiden no hi Die Pausbacken der Birnenverkäuferin: kurz beschienen von der fahrenden Tram yubi todoku barakku no yane bara no hako In greifbarer Nähe das Barackendach und Kisten mit den Zuchtrosen baketsu ni yuri tabako wo kai ni ubuya yori Kommt mit einem Strauß Lilien von der Geburts-Station, will Zigaretten kaufen sasanaki ya mangetsu noboru Fuji no hada Vogelzwitschern im Winter – der Vollmond steigt an der Haut des Fuji empor … hitokokyû goto ama no omote kôchô su Bei jedem Atemholen wird das Gesicht der Taucherin röter 143 島田靑峰 Shimada Seihô (1882–1944) Dichter aus der Präfektur Mie, arbeitet nach dem Abschluß an der Waseda-Universität bis 1908 als Englischlehrer, wird dann Journalist der Zeitung Kokumin shimbun und Mitarbeiter an Takahama Kyoshis* Hototogisu („Bergkuckuck“). Ab 1922 gibt er die Haiku-Zeitschrift Dojô („Auf der Erde“) heraus und schließt sich 1934 der „Neuen Haiku-Bewegung“ (Shinkô haiku) an. Seit 1932 Dozent für Literatur an der Waseda-Unversität und Verfasser literaturgeschichtlicher Arbeiten. Im Februar 1941 bei der Verfolgung von Haiku-Dichtern in Tôkyô inhaftiert. Durch die Haft verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand, er stirbt schließlich 1944 an den Folgen. 咳 輕 し 春 の 曙 木 に 光 る 144 冬 籠 る 琴 の 袋 の 薄 埃 赤 き 月 殘 暑 の 町 に 昇 り け り 盆 に 殘 る 柿 の 一 つ に 夜 冷 え か な 我 が 影 や 冬 の 夜 道 を 面 伏 せ て waga kage ya fuyu no yomichi wo omofusete Mein Schatten wandert auf Pfaden der Winternacht mit gesenktem Kopf … bon ni nokoru kaki no hitotsu ni yobie kana Auf dem Tablett übrig nur eine Kaki-Frucht – Nachtkälte … akaki tsuku zansho no machi ni noborikeri Ein roter Mond über der Stadt voll von Sommerhitze steigt höher … fuyugomoru koto no fukuro no usuhokori Eine Laute im Winterschlaf. Auf ihrer Hülle sammelt sich feiner Staub … seki karushi haru no akebono ki ni hikaru Nur leichter Husten – das Morgenrot des Frühlings strahlt in den Bäumen 145 篠原梵 Shinohara Bon (1910–1975) Geboren in der Präfektur Aichi, Abschluß 1934 im Fach Japanische Literatur an der Universität Tôkyô. Fängt 1934 bei der politischen Zeitschrift Chûô kôron an und arbeitet sich bis zu seinem Rückzug 1944 zum stellvertretenden Herausgeber hinauf. Zwischenzeitlich Professor eines Lehrerseminars seiner Heimat. 1948 wieder Mitarbeit an der gleichen Zeitschrift in der Sparte Jugendliteratur, alsbald leitender Herausgeber. 誰 か 咳 き わ が ゆ く 闇 の 奥 を ゆ く 146 犬 が そ の 影 よ り 足 を 出 し て は ゆ く 閉 ぢ し 翅 し づ か に ひ ら き 蝶 死 に き 足 袋 は く や 吾 子 の 足 は い く つ 入 る ら む tabi haku ya ako no ashi wa ikutsu hairuramu Beim Sockenanzieh’n: das Füßchen meines Kindes – wie oft passt es hinein? tojishi hane shizuka ni hiraki chô shiniki Die gefalteten Flügel öffnen sich sachte: der Schmetterling stirbt … inu ga sono kage yori ashi wo dashitewa yuku Aus dem eigenen Schatten streckt der Hund das Bein hervor – beim Gehen dare ka seki waga yuku yami no oku wo yuku Es hustet jemand beim Gehen in dem tiefen Dunkel, durch das ich mich taste 147 杉田久女 Sugita Hisajo (1890–1946) Aus Kagoshima, absolviert die Höhere Töchterschule in Tôkyô, nachdem sie ihre Kindheit in Taiwan und auf den Ryûkyû-Inseln verbracht hat. Schülerin des Takahama Kyoshi*. Ihre Werke erscheinen von ihrem 25. Lebensjahr an in Hototogisu („Bergkuckuck“), zuerst Mitarbeiterin dieser Zeitschrift, wird sie aber im Rahmen der Verfechtung strenger Haiku-Regeln durch Kyoshi 1936, zusammen mit einer Reihe anderer Haiku-Dichter, von Hototogisu ausgeschlossen. Stirbt wegen Mangelernährung an einem Nierenleiden in Dazaifu. 菊 の 香 の く ら き 佛 に 灯 を 獻 ず 148 旅 衣 春 ゆ く 雨 に ぬ る ゝ ま ゝ 羅 に 衣 通 る 月 の 肌 か な 實 桑 も ぐ 乙 女 の 朱 唇 戀 知 ら ず 牡 丹 を 活 け て お く れ し 夕 餉 か な botan wo ikete okureshi yûge kana Päonien arrangierend verrann die Zeit. Das Abendessen viel zu spät … mikuwa mogu otome no shushin koi shirazu Mädchenlippen rot beim Maulbeeressen – kennen die Liebe noch nicht usumono ni so tôru tsuki no hadae kana Durch den dünnen Stoff dringen die Mondstrahlen auf meine nackte Haut tabigoromo haru yuku ame ni nururu mama Mein Reisegewand vom Regen, der den Frühling fortträgt, ganz durchnässt … kiku no ka no kuraki Hotoke ni hi wo kenzu Chrysanthemenduft um das Buddha-Bild im Dunkel – ich opfere ein Licht 149 鈴木六林 Suzuki Murio (1919–2004) Aus Kishiwada in der Region Ôsaka. Bricht seine Studien an einer Handelsschule ab und veröffentlicht Haiku in Kaze („Wind“) und Tenrô („Sirius“). Trotz schwerer Verwundung und unheilbarer Verletzungen aus dem Krieg sehr produktiv. わ が 前 に 朝 の も の 購 う 女 の 肩 150 手 の ひ ら に 礫 灼 け い る 飢 え 久 し 嬰 兒 の 赤 き 舌 を 見 た れ ば 直 ぐ 歸 る 大 佛 殿 ひ と あ ら ず わ が 聲 を 出 す 女 無 き 春 の 家 な り 五 時 を 打 つ onna naki haru no ie nari goji wo utsu Mein Haus jetzt ganz ohne Frau – im Frühling! Es schlägt fünf Uhr Daibutsu-den hito arazu waga koe wo dasu In der Halle des großen Buddha ganz allein – rufe ich laut! Als ich Frau und Kind während ihrer Evakuierung am Rand von Izumi besuchte midorigo no akaki shita wo mitareba sugu kaeru Als ich die gerötete Zunge des Neugeborenen sah, machte ich schleunigst kehrt te no hira ni koishi yakeiru ue hisashi Auf meiner flachen Hand brennt der sonnenheiße Kieselstein – Hunger im Magen! waga mae ni asa no mono kau onna no kata Vor meinen Augen die Schulter einer Frau – sie kauft fürs Frühstück ein! 151 高濱虛子 Takahama Kyoshi (1874–1959) Aus Matsuyama, Masaokas Geburtsort stammend, lernt er über seinen Klassenkameraden Kawahigashi Hekigotô* seinen späteren Lehrer Masaoka Shiki* kennen, der ihm den Dichternamen Kyoshi gibt. Will von früher Jugend an Literat werden, strebt daher kein abgeschlossenes Studium an. Ein guter Geschäftsmann, gründet 1897 in Matsuyama einen Verlag, der nach Tôkyô verlegt wird und die inzwischen bedeutende Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“) herausgibt. Schreibt auch Essays und Novellen; schon 1934 umfasst sein Werk 12 Bände. Ab 1913 gilt jedoch sein Hauptinteresse dem Haiku und dessen konservativer Schule. Tritt auf zunehmend dogmatische Weise für strikte Regeln in Form und Inhalt ein und fordert zugleich eine thematische Konzentration auf Naturphänomene (kachô fûei). Übt mittels der Zeitschrift Hototogisu wachsenden Druck auf Haiku-Dichter aus und wird zum entschiedenen und mächtigen Gegner der freien Haiku-Bewegung. 蛇 逃 げ て 我 を 見 し 眼 の 草 に 残 る 152 山 吹 や 喉 が ふ く れ て 啼 く 蛙 ほ ろ 〳 〵 と 泣 き 合 ふ 尼 や 山 葵 漬 仰 向 け に 倒 れ し 顏 の 案 山 子 か な 美 し き 羽 子 板 店 の 娘 か な utsukushiki hagoita mise no musume kana In diesem Laden voll hübscher Federballschläger ein junges Mädchen aomuke ni taoreshi kao no kagashi kana Hintübergefallen starrt zum Himmel empor – die Vogelscheuche horo-horo to nakiau ama ya wasabizuke Es tropfen Tränen aus allen Nonnenaugen – eingelegter Meerrettich yamabuki ya nodo ga fukurete naku kawazu Goldröschenblüten! Darunter quakt, die Kehle aufgebläht, ein Frosch hebi nigete ware wo mishi me kusa ni nokoru Davon die Schlange. Doch ihr Auge, das mich bannte, blieb im Gras zurück 153 高橋淡路女 Takahashi Awajijo (1890–1955) Aus der Präfektur Hyôgo. Absolviert in Tôkyô die Höhere Frauenschule und heiratet 1913. Nach dem Tode ihres Mannes nach nur einjähriger Ehe schließt sie sich dem Kreis der Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“) um Kyoshi und ab 1925 der Zeitschrift Ummo („Glimmer“) des Iida Dakotsu* an. 句 を 知 り て 四 十 年 の 春 の 宵 154 這 う て く る 孫 の 掌 の お と 梅 雨 疊 い の ち 一 つ わ が 掌 に 寒 玉 子 旅 二 た 夜 一 と 夜 時 雨 れ て た の し く て 夢 に 逢 ひ し 人 つ れ な く て 秋 の 蚊 帳 yume ni aishi hito tsurenakute aki no kaya Den ich sah im Traum, der Mann, wies mich ab – Moskitonetz im Herbst … tabi futayo hitoyo shigurete tanoshikute Zwei Tage auf Reisen eine Nacht goß es in Strömen – welch ein Genuß! inochi hitotsu waga tanazoko ni kantamago Ein kleines Leben in meinem Handteller: ein Ei zur Winterzeit haute kuru mago no te no oto tsuyudatami Da kommt mein Enkel an, krabbelt mit Händchen patschend – draußen: die Regenzeit ku wo shirite yonjûnen no haru no yoi Im Haiku-Dichten geübt an Frühlingsabenden seit vierzig Jahren … 155 高屋窓秋 Takaya Sôshû (1910–1999) Aus der Präfektur Aichi, absolviert ein Studium in Kumamoto an der Fakultät für Literatur. Wird 1938 Angestellter einer Telegrafen- und Telefongesellschaft in der Mandschurei. Vater von drei Kindern, verliert seine älteste Tochter in den Kriegswirren. 1951 gelangt er auf eine leitende Stelle beim Rundfunk in Tôkyô. Nach dem Bruch Mizuhara Shûôshis* mit Takahama Kyoshi* 1931 werden viele andere Haiku-Dichter zu einer Avantgarde-Bewegung („Neue Haiku-Bewegung“) ermutigt, die in Jahreszeitenwörtern (kigo) und „objektiver Betrachtung“ eine entscheidende Einschränkung sieht. Zu den führenden Dichtern dieser Bewegung gehört auch Takaya Sôshû, zunächst als Mitarbeiter der Zeitschrift Ashibi („Besenstrauch“), wechselt er dann zu Kyôdai haiku und zu Tenrô („Sirius“) über. 荒 地 に て 石 も 死 人 も 風 發 す 156 秋 の 雲 が が た ぴ し 森 の 戀 乙 女 星 に 咳 き 咳 き 月 に 咳 き 咳 き 孤 兒 あ る く 子 が 失 せ し 焦 土 つ ち か い 薔 薇 ち さ し 荒 地 に て 沼 が ぶ つ ぶ つ 星 夜 arechi nite numa ga butsu-butsu hoshi no yoru In der Einöde – es blubbert das Moor in dieser Sternennacht … ko ga useshi shôdo tsuchikai bara chisashi Wo mein Kind starb, in der Erde der Brandstätte, hege ich Rosen – sie sind noch klein … hoshi ni sekiseki tsuki ni sekiseki koji aruku Hüstelt die Sterne an hüstelt den Mond an da geht ein Waisenkind … aki no kumo ga gatapishi mori no koiotome Herbstwolken am Himmel … es knackt und knarrt im Wald bei der Geliebten arechi nite ishi mo shinin mo fûhatsu-su In der Einöde: Steine und Tote halten lebhaft Zwiesprache – windgleich 157 高柳重信 Takayanagi Jûshin (1923–1983) In Tôkyô geboren, studiert Jura an der Waseda-Universität. Schriftstellername auch Yamakawa Semio. Nach seinem Abschluß schickt er seine Gedichte – meist im freien Stil und oft der Konkreten Poesie angenähert – an mehrere Zeitschriften. Von Tomizawa Kakio* im Haiku-Dichten unterrichtet, gibt er seit 1952 mit ihm zusammen die Zeitschrift Bara („Rose“) heraus. (3) 緋 色 の 雨 の 岬 の 靑 絹 の 情 死 (1) か た つ む り 老 い の 激 し き 森 の 奧 の (4) こ こ ろ の 雪 崩 158 つ ら な る あ か く 眠 る と き も 谷 ま 森 や 風 下 の (2) 白 く な る 不 眠 の 鴉 孤 島 に て kazashimo no mori no oku no oi no hageshiki katatsumuri unterm wind in waldestiefe die alterswilde schnecke kotô nite fumin no karasu shiroku naru auf einsamer insel die schlaflose krähe wird weiß aoginu no ame no jôshi misaki no hiiro no blauseidener regennasser doppelliebestod an der landzunge scharlachrot mori ya tanima mo nemuru toki akaku tsuranaru kokoro no nadare wald und schluchten auch wenn sie schlafen sind rot aufgereihte herzlawinen 159 竹下しづの女 Takeshita Shizunojo (1887–1951) Aus Fukuoka. Die künstlerisch begabte und sehr gebildete Dichterin absolviert die Lehrerbildungsanstalt und bleibt im Schuldienst bis zu ihrer Heirat 1912. Beginnt 1919 Haiku zu dichten, zunächst als Schülerin von Yoshioka Zenjidô*, später von Takahama Kyoshi*. Gehört seit 1920 zur Hototogisu-Gruppe. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes 1933 wird sie Bibliothekarin in ihrer Heimatstadt und widmet sich der Erziehung ihrer fünf Kinder. Das Dichten von Haiku behält sie bei, wird Herausgeberin der Haiku-Zeitschrift Seisôken („Stratosphäre“), die ihr ältester Sohn gründet, später wird sie darin unterstützt von Nakamura Kusatao*. 人 膚 に 肖 て あ た た か き 枯 木 か な 160 汗 臭 き 鈍 の 男 の 群 に 伍 す 化 粧 ふ れ ば 女 は 湯 ざ め 知 ら ぬ な り 寒 夜 鏡 に 褄 し づ ま り て 誰 か 彳 つ 子 を 負 う て 肩 の か ろ さ や 天 の 川 ko wo oute kata no karosa ya amanogawa Mein Kind auf dem Rücken trägt sich leicht beim Anblick der Milchstrasse … kan'ya kagami ni tsuma shizumarite dare ka tatsu Kalte Winternacht: Im Spiegel streiche ich den Rocksaum glatt – jemand steht draußen … kewa fureba onna wa yuzame shiranu nari Junge Mädchen beim Schminken nach dem Bad – kennen keine Erkältung! ase kusaki noro no otoko no mure ni go-su In einer Reihe mit stumpfsinnigen Männern, alle mit Schweißgeruch … hito hada ni nite atatakaki karegi kana So warm wie die Haut eines Menschen ist die Rinde dieses vertrockneten Baumes 161 種田山頭火 Taneda Santôka (1882–1940) Ursprünglicher Name Taneda Shôichi, aus der Präfektur Yamaguchi, wo er zur Schule geht. Mit 10 Jahren Selbstmord der Mutter. Besucht die Waseda-Universität (Fach Literatur), die er wegen Alkoholproblemen nicht beendet. Wird 1911 mit Ogiwara Seisensui* bekannt, der ihn für das Haiku – im freien Stil – begeistert. Nach Selbstmordversuchen verlässt er 1924 Frau und Kind, schließt sich einem Zen-Tempel an und wird als Mönch der Sôtô-Schule ordiniert. Reist jahrelang als Bettelmönch durch das Land, wie viele seiner Dichter-Vorfahren, und übernachtet zeitweilig in Tempeln und Einsiedlerhütten, ohne je die strenge tägliche HaikuDisziplin des tagebuchmäßigen Dichtens zu vernachlässigen. こ こ を 死 に 場 所 と し 草 の し げ り に し げ り 162 こ こ に 白 髪 を 剃 り 落 し て 去 る 死 の し づ け さ は 晴 れ て 葉 の な い 木 雪 の あ か る さ が 家 い つ ぱ い の し づ け さ 笠 に と ん ぼ を と ま ら せ て あ る く kasa ni tombo wo tomarasete aruku Die Libelle auf meinem Bambushut laß ich sitzen und wandere … yuki no akarusa ga ie ippai no shizukesa Die Helligkeit des Schnees – sie füllt das ganze Haus mit Stille … aus: „Drei Verse am Rande des Todes“ shi no shizukesa wa harete ha no nai ki Die Stille des Todes offengelegt: Ein Baum ohne Blätter koko ni shirakami wo sori otoshite saru Hier schor man mir mein weißes Haar. Ich schüttel’ es ab und geh’ … koko wo shinibashô to shi kusa no shigeri ni shigeri Hier ist ein guter Ort zum Sterben: dichtestes Gräsergewirr 163 醉 う て こ ほ ろ ぎ と ね て ゐ た よ 164 旅 の 法 衣 が か わ く ま で 雜 草 の 風 乞 ひ あ る く 水 音 の ど こ ま で も 咳 が や ま な い 背 中 を た た く 手 が な い seki ga yamanai senaka wo tataku te ga nai Der Husten nimmt kein Ende! Keine Hand, die meinen Rücken klopft koi'aruku mizuoto no doko made mo Bettelnd immer nur dem Geräusch des Wassers folgen – wer weiß wohin … tabi no hôe ga kawaku made zassô no kaze Die Kutte des Wandermönchs zum Trocknen ausgelegt: Wind in den Sommergräsern youte kôrogi to nete ita yo Weinselig hab’ ich geschlafen zusammen mit den Grillen! 165 藤後左右 Tôgo Sayû (1908–1991) Arzt aus der Präfektur Kagoshima, beschäftigt sich seit 1928 intensiv mit Haiku, auch unter dem Einfluß von Takahama Kyoshi*, später in Zusammenarbeit mit dem Dichter Hirahata Seitô*. 襖 が す こ し 開 い て ゐ る 女 の 炎 166 あ る 露 地 に 蜜 柑 の 花 の 香 の 流 れ 汽 車 の 前 谷 の れ ん げ 田 現 れ ん と 待 つ 萩 の 間 の く ろ 髪 な れ や ぬ す み 見 る 炎 天 や 行 く も か へ る も 熔 岩 の み ち enten ya yuku mo kaeru mo raba no michi Sengende Hitze – mein Hin- und Rückweg über ein Lava-Feld! hagi no ma no kurokami nareya nusumimiru Im „Buschkleeblüten“-Zimmer des Gasthofs ein schwarzer Haarschopf! Heimlich spähe ich … kisha no mae tani no rengeta awaren to matsu Gleich vor dem Zug das kleine Lotosfeld erwarte ich bewegt … aru roji ni mikan no hana no ka no nagare Eine kleine Seitengasse durchzieht der Duft von Mandarinenblüten … fusuma ga sukoshi aite iru onna no homura Durch einen schmalen Spalt der Schiebetür: Wangenrot eines Mädchens! 167 富田木歩 Tomita Moppo (1897–1923) Aus Tôkyô, durch eine Krankheit im Kleinkindalter verkrüppelt. Seine Familie ist so arm, daß sie es sich nicht leisten kann, ihn in die Volksschule zu schicken. Lernt schreiben von Papierfetzen, die er aufliest, und durch Spielkarten. Mit 17 Jahren nehmen sich Hara Sekitei* und später Usuda Arô* seiner an und fördern sein Talent. Kommt im Großen Erdbeben von 1923 um. 醫 師 の 來 て 垣 覗 く 子 や 黐 の 花 168 少 年 が 犬 に 笛 聽 か せ を る 月 夜 菓 子 や れ ば 日 々 來 る 犬 や 秋 の 雨 う そ 寒 や 障 子 の 穴 を 覗 く 猫 我 が 肩 に 蜘 蛛 の 絲 張 る 秋 の 暮 Krankenlager waga kata ni kumo no ito haru aki no kure An meine Schulter spannte eine Spinne ihren Faden – Herbstabend usosamu ya shôji no ana wo nozoku neko Spätherbstliche Kühle! Durch ein Loch in der Schiebetür späht die Katze kashi yareba hibi kuru inu ya aki no ame Leckerbissen zu holen kommt der Hund nun täglich – Herbstregen shônen ga inu ni fue kikase oru tsukiyo Ein Knabe spielt seinem Hund auf der Flöte vor, die ganze Mondnacht ishi no kite kakinozoku ko ya mochi no hana Der Arzt ist gekommen, Kinderkopf am Zaun, von Stechpalmenblüten umkränzt 169 富安風生 Tomiyasu Fûsei (1885–1979) In der Präfektur Aichi in der Nähe von Nagoya geboren, geht zum Jura-Studium nach Tôkyô und studiert Deutsches Recht. Im Öffentlichen Dienst als Beamter des Verkehrsministeriums kommt er in die höhere Verwaltung und wird stellvertretender Verkehrsminister. Tritt 1937 zurück, um sich ganz der Dichtung zu widmen. Schon früh von Yoshioka Zenjidô* in die Technik des Haiku eingeführt, dichtet er seit 1918 im Geiste Takahama Kyoshis*. Seine Haiku erscheinen zunächst hauptsächlich in der Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“). Später ist er Mitbegründer der Zeitschrift Wakaba („Frisches Laub“) und seit 1928 deren Herausgeber. 螢 火 や 山 の や う な る 百 姓 家 170 朝 寒 や 汽 罐 車 ぬ く く 顏 を 過 ぐ 箱 庭 に 病 葉 落 ち て 大 い な り ハ ン ケ チ 振 つ て 別 れ も 愉 し 少 女 等 は 一 め ん の 落 花 の 水 に 蛙 の 眼 満 月 を 生 み し 湖 山 の 息 づ か ひ mangetsu wo umishi kozan no ikizukai Die Berge um den See gebaren diesen Vollmond, atmen jetzt auf … ichimen no rakka no mizu ni kaeru no me Über das Wasser verstreut nur buntes Laub, darin ein Froschauge hankechi futte wakare mo tanoshi otomera wa Taschentücher flattern, sie genießen selbst den Abschied: junge Mädchen! hakoniwa ni wakuraba ochite ôi nari In den Miniaturgarten fiel ein krankes Blatt – liegt übergroß da asasamu ya kikansha nukuku kao wo sugu Kalter Spätherbstmorgen! Warm zieht eine Dampflok vorbei an meinem Gesicht … hotarubi ya yama no yô naru hyakushôya Glühwürmchenlichter – und, wie ein Berg so groß, ein Bauernhaus! 171 春 月 や 岩 を 刳 り し 温 泉 宿 道 172 談 笑 の い と 朗 か に 梅 雨 の 宿 秋 の 庭 犬 去 り 猫 來 ま た 犬 來 る 工 女 歸 る 浴 衣 に 赤 い 帶 し め て 學 問 の 胡 座 の 膝 の 小 猫 か な gakumon no agura no hiza no koneko kana Im Schneidersitz in meine Studien vertieft, ein Kätzchen auf dem Schoß … kôjo kaeru yukata ni akai obi shimete Fabrikmädchen kehren heim im Baumwoll-Kimono mit rotem Gürtel aki no niwa inu sari neko ki mata inu kuru Vorgarten im Herbst: da geht der Hund, kommt die Katze, dann kommt der Hund zurück … danshô no ito hogaraka ni tsuyu no yado Reden, Gelächter: Fröhlicher Lärm aus der Schänke in der Regenzeit! shungetsu ya iwa wo egurishi yuyado michi Frühlingsmond leuchtet, schneidet den Weg in den Fels zum Gasthaus der heißen Quellen 173 富澤赤黄男 Tomizawa Kakio (1902–1962) Aus der Präfektur Ehime, studiert an der Waseda-Universität. Beginnt 1923 mit der Veröffentlichung seiner Gedichte in Matsune Tôyôjôs Shibugaki („Bittere Kaki“), später in der Zeitschrift Izumi („Quell“). Ab 1934 wichtiges Mitglied der „Neuen Haiku-Bewegung“ (Shinkô haiku) und deren Zeitschrift Kikan („Flaggschiff“). Herausgeber verschiedener Zeitschriften, auch nach dem Krieg, zuletzt von Bara („Rose“). 乳 房 を 拭 へ ば 空 の き ら き ら す 174 花 の 露 こ ぼ れ て あ つ き 人 の 肌 戀 び と は 土 龍 の や う に ぬ れ て ゐ る 妻 は 湯 に わ れ に は 濃 ゆ き 冬 夕 焼 わ が 日 記 尺 取 蟲 は 壁 を 匍 ふ 夕 風 の 馬 も 女 も 風 の 中 yûkaze no uma mo onna mo kaze no naka Im Abendwind – ein Pferd und eine Frau windumweht … waga nikki shakutorimushi wa kabe wo hau Mein Tagebuch: eine Raupe kriecht nach und nach die Wand empor … tsuma wa yu ni ware ni wa koyuki fuyu yûyake Im heißen Quellbad schmiegt sich meine Frau an mich. Wintersonne sinkt koibito wa mogura no yô ni nurete iru Meine Geliebte, naß ist sie wie ein Maulwurf … Zwei Gedichte aus: „Sechs Studien zum Motiv ,Frau‘“ hana no tsuyu koborete atsuki hito no hada Tauperlen auf Blüten rollen herab heiß auf ihre Haut chibusa wo nugueba sora no kira-kira su Wie ich ihre Brüste abtrockne, strahlt der Himmel mir hell 175 春 雷 は 乳 房 に ひ び く も の な り や 176 人 穴 を 掘 れ ば 寒 月 穴 の 上 咳 け ば 枯 木 の 天 も 咳 け り shiwabukeba karegi no ten mo shiwabukeri Ich huste, und da hustet auch der Himmel hinter dürrem Geäst hito ana wo horeba kangetsu ana no ue Hat einer ein Loch gegraben in die Erde, erscheint darüber der kalte Wintermond shunrai wa chibusa ni hibiku mono nari ya Frühlingsgewitter – der Donner hallt wider in einer Mädchenbrust 177 津田淸子 Tsuda Kiyoko (1920– ) Dichterin aus der Präfektur Nara, absolviert die Lehrerbildungsanstalt in Nara und wird von 1948 an von Hashimoto Takako* und später von Yamaguchi Seishi* unterwiesen. Publiziert seit dieser Zeit in Tenrô („Sirius“). 梅 雨 の 夜 空 へ 工 場 の 熱 の 煙 178 漁 夫 の 葬 舟 を 熱 砂 に 曳 き あ げ て ハ ン カ チ を 淸 水 に 絞 る 泣 き し あ と 女 の 月 日 白 き 紙 漉 き 重 ね て は 逢 曳 や 女 に 日 傘 の 影 加 は る aibiki ya onna ni higasa no kage kuwaru Rendezvous: zum Mädchen gesellt sich der Schatten eines Sonnenschirms me no tsukihi shiroki kamisuki kasanete wa Die Zeit einer Frau: geschöpfte Papierbögen, weiß, aufeinandergeschichtet hankachi wo shimizu ni shiboru nakishi ato Mein Taschentuch winde ich im klaren Wasser aus, nach dem Weinen gyofu no sô fune wo nessa ni hikiagete Fischer-Begräbnis: das Boot hinaufgezogen auf den heißen Sand tsuyu no yoru sora he kôba no netsu no kemu In den Nachthimmel der Regenzeit schickt eine Fabrik heißen Rauch 179 上野泰 Ueno Yasushi (1918–1973) Aus Yokohama. Abschluß an der Rikkyô-Universität. Heiratet 1942 die sechste Tochter von Takahama Kyoshi*. Mitarbeiter an der Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“). サ ン フ ラ ン シ ス コ 對 岸 海 女 歩 く 180 月 光 や 閾 は 川 の 如 流 れ 笑 ふ か に 泣 く か に 雛 の 美 し く 洗 ひ 髪 夜 空 の 如 く 美 し や 學 帽 を 耳 に 支 へ て 入 學 す 咽 喉 佛 見 せ た る 吾 子 の 初 笑 ひ nodobotoke misetaru ako no hatsuwarai Über meinen Adamsapfel lacht unser Kindchen – das erste Mal! gakubô wo mimi ni sasaete nyûgaku su Die Mützen sitzen ihnen auf den Ohren am ersten Schultag araigami yozora no gotoku utsukushi ya Ihre Haare frischgewaschen: schön sind sie wie der Nachthimmel! warau ka ni naku ka ni hina no utsukushiku Lachen sie oder weinen sie – die Puppen sind doch immer schön gekkô ya shikimi wa kawa no gotoku nagare Im Licht des Mondes treibt, wie ein Fluß, die Türschwelle dahin … San Furanshisuko taigan ama aruku Am Ufer gegenüber von San Francisco geht die Fischerin … 181 臼田亞浪 Usuda Arô (1879–1951) Aus der Präfektur Nagano, kommt schon früh in die Hauptstadt, wo er hart arbeiten muss, um ein juristisches Studium zu absolvieren. Nach Abschluß der Universität Journalist. 1914 durch ein Nierenleiden zur Muße gezwungen, entdeckt er das Haiku als lyrisches Medium, um die „Wahrheit (makoto) des Menschen und der Natur“ auszudrücken. す が り ゐ て 草 と 枯 れ ゆ く 冬 の 蠅 182 打 水 や 砂 に 滲 み ゆ く 樹 々 の 影 屋 根 に 子 を 育 て て 猫 が 月 に 居 る 氷 上 に 霰 こ ぼ し て 月 夜 か な hyôjô ni arare koboshite tsukiyo kana Nächtlicher Hagel verstreut über der Eisfläche in mondheller Nacht yane ni ko wo sodatete neko ga tsuki ni oru Auf dem Dache bemuttert sie ihre Jungen, Katze im Mondschein uchimizu ya suna ni shimiyuku kigi no kage Frisch gesprengter Garten. In den Sand saugen sich die Schatten der Bäume sugariite kusa to kareyuku fuyu no hae Festgeklammert an einen Halm, verdorrt sie mit ihm – die Winterfliege 183 渡邊水巴 Watanabe Suiha (1882–1946) Sohn des Malers Watanabe Shôtei (1851–1918) aus Tôkyô, lernt Haiku-Dichten bei Naitô Meisetsu* und Takahama Kyoshi*. Herausgeber der Zeitschrift Kyokusui („Gewundener Wasserlauf“). Ab 1916 Mitarbeiter auch an der Zeitschrift Ummo („Glimmer“) zusammen mit Murakami Kijô*, einem Schüler Masaoka Shikis*. Über ein Dutzend Haiku-Werke. て の ひ ら に 落 花 と ま ら ぬ 月 夜 か な 184 落 花 踏 む や し ば し 雀 と 夕 焼 け て 手 を う た ば く づ れ ん 花 や 夜 の 門 老 妓 ひ と り 春 夜 の 舞 の 足 袋 白 し Das Teehaus Ichiriki in Kyôto rôgi hitori shun'ya no mai no tabi shiroshi Alte Geisha, für sich allein beim Tanz in der Frühlingsnacht – weiß leuchten ihre Socken … te wo utaba kuzuren hana ya yoru no kado Klatschte ich in die Hände, zerfiele sie schon – die Blüte am nachtdunklen Tor … ochiba fumu ya shibashi suzume to yû yakete Durchs Herbstlaub stapfen eine Weile ein Spatz und ich – im Abendrot te no hira ni rakka tomaranu tsukiyo kana In meiner Hand bleibt keine fallende Blüte liegen – in dieser Mondnacht … 185 山口波津女 Yamaguchi Hatsujo (1906–1985) Ursprünglicher Name Asai Umeko. Aus Ôsaka, absolviert dort die Höhere Töchterschule. Lernt 1926 Yamaguchi Seishi* kennen, ihren maßgeblichen Haiku-Lehrer, den sie 1928 heiratet. Gehört zum Stab der Zeitschriften Ashibi („Besenstrauch“) und Tenrô („Sirius“). 冬 薔 薇 活 く 鋭 き 棘 を 水 に 沈 め 186 ぬ れ し 手 の と び ら を あ く る 冷 藏 庫 重 き 房 な り し 葡 萄 を 食 べ 終 る 金 魚 夜 を 如 何 に 過 す や 人 は 寢 る 父 の 間 の 煖 爐 を 焚 け り 父 は 亡 く chichi no ma no danro wo takeri chichi wa naku In Vaters Zimmer den Ofen angezündet. Vater ist nicht mehr … kingyo yo wo ika ni sugosu ya hito wa neru Wie verbringen die Goldfische nur die Nacht? Die Menschen schlafen omoki fusa narishi budô wo tabeowaru Die riesige Traube – bis zur letzten Beere hab ich sie verdrückt! nureshi te no tobira wo akuru reizôko Mit nassen Händen will ich sie öffnen die Tür meines Kühlschranks fuyubara iku surudoki toge wo mizu ni shizume Winterrosen arrangieren: ihre spitzen Dornen ins Wasser tauchen 187 山口誓子 Yamaguchi Seishi (1901–1994) Ursprünglicher Name Yamaguchi Chikahiko. Aus Kyôto, verbringt seine Kindheit zwischen Kyôto und Sachalin, wo sein Großvater eine Zeitungsdruckerei besaß. Absolviert bis 1926 ein Jura-Studium an der Universität Tôkyô, wird dann vom Versicherungskonzern Sumitomo eingestellt, muß sich jedoch wegen eines Lungenleidens 1942 zurückziehen. Ausnehmend produktiver Dichter und Schriftsteller, zunächst gefördert von seinem Lehrer Takahama Kyoshi*. Herausgebertätigkeit bei mehreren Zeitschriften, zunächst bei Hototogisu („Bergkuckuck“), die er wegen Differenzen über die Thematik des neuen Haiku verlässt; er spricht sich jedoch für die Beibehaltung des 5-7-5-Silbenschemas und des Jahreszeitenwortes aus. Bedeutende Rolle in der „Neuen Haiku-Bewegung“ (Shinkô haiku) und bei der Förderung des neuen Haiku nach dem Krieg, Mitherausgeber von Ashibi („Besenstrauch“), 1948 Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Tenrô („Sirius“). 地 に 落 ち て 紙 ひ び く 凧 秋 祭 188 紅 鼻 の 感 冒 の 神 父 と 坂 登 る ひ と つ 蚊 帳 妻 も み と り を 終 へ て 寢 る 高 原 の 裸 身 靑 垣 山 よ 見 よ 臼 を 碾 き や み し 寒 夜 の 底 知 れ ず usu wo hiki yamishi kan'ya no soko shirezu Das Mörserstampfen hört auf – unergründlich das Dunkel der Winternacht kôgen no rashin aokaki yama yo miyo Auf der Almwiese lieg’ ich nackt, umringt von den Bergen – schaut her! hitotsu kaya tsuma mo mitori wo oete neru Unter dem einen Mückennetz hat meine Frau mich lange gepflegt – nun schläft auch sie akahana no kaze no shimpu to sakanoboru Mit dem Priester und seiner roten Schnupfnase steig’ ich den Hang hoch chi ni ochite kami hibiku tako akimatsuri Die Kinderdrachen fallen zu Boden, das Papier raschelt – Herbstfest 189 山口靑邨 Yamaguchi Seison (1892–1988) Eigentlicher Name Yamaguchi Kichirô. Aus Morioka stammend, absolviert in Tôkyô ein Studium an der Technischen Hochschule. Zunächst als Ingenieur im Bergbau angestellt, wird dann Ministerialbeamter und lehrt schließlich bis 1953 als Professor an der Universität Tôkyô. Anfang der 20er Jahre von Takahama Kyoshi* zum Haiku-Dichten angeregt. Begründet die HaikuGruppe an der Universität Tôkyô. Herausgeber der Zeitschrift Natsukusa („Sommergras“). Seine Gedichtbände sind ebenso zahlreich wie seine Miszellen-Werke. ビ ス マ 〡 ク 好 み し 鰊 吾 も 食 ふ 190 湯 女 踊 る 溪 聲 夜 は 調 變 へ 摘 草 や 嬋 娟 と し て 人 の 指 本 を 讀 む 菜 の 花 明 り 本 に あ り hon wo yomu na no hanaakari hon ni ari Ich lese ein Buch. Auf die Seiten fällt der Widerschein von voll erblühtem Raps … tsumikusa ya senken toshite hito no yubi Beim Kräuterpflücken: Mädchenfinger bewegen sich voller Anmut yuna odoru keisei yoru wa shirabe kae Badehausmädchen tanzen. Sogar der nächtliche Bergbach ändert seine Melodie Bisumâku konoshimi nishin ware mo kuu Den Bismarck so sehr liebte, den Hering, verspeise auch ich jetzt! 191 吉岡禪寺洞 Yoshioka Zenjidô (1889–1961) Aus der Präfektur Fukuoka. Zunächst Journalist und Lehrer, gibt bald seinen Beruf auf, um sich ausschließlich dem Dichten von Haiku zu widmen. Seine Gedichte erscheinen zunächst in der Haiku-Kolumne der Tageszeitung Nippon shimbun, dann nimmt sie Takahama Kyoshi* in der Zeitschrift Hototogisu („Bergkuckuck“) auf. Schließt sich später jedoch der „Neuen HaikuBewegung“ an, die sich gegen das „Naturdichtung“-Diktum (kachô fûei) von Takahama Kyoshi wendet. Nach dem Krieg tritt er für einen umgangssprachlich „hingesprochenen“ Haiku-Stil ein. 凍 死 者 の た ま し い が 一 枚 の む し ろ の 下 か ら 昇 天 す る 192 夕 焼 が 冬 木 の 幹 を も や そ う と す る 黑 揚 羽 が 去 つ た 或 女 の よ う に 麥 笛 吹 い て い る 少 女 の 戀 の 日 が 遠 い mugibue fuite iru shôjo no koi no hi ga tôi Strohhalmflöte bläst das kleine Mädchen … fern noch sind die Tage der Liebe! kuroageha ga satta aru onna no yô ni Der schwarze Schwalbenschwanz flog fort – so wie eine gewisse Frau … yûyake ga fuyuki no miki wo moyasô to suru Abendsonnenglut: Schickt sich an, den Winterwald in Brand zu setzen tôshisha no tamashii ga ichimai no mushiro no shita kara shôten suru Seele des Erfrorenen: der Binsenmatte entsteigt sie und fährt gen Himmel 193 Angesichts der großen Zahl von Haiku-Autoren ist es nicht gelungen, die Anschriften wirklich aller Autoren bzw. deren Hinterbliebener ausfindig zu machen. Diejenigen, die erreicht wurden, gaben ihre Zustimmung auf ausgesprochen freundliche Weise, woraus die Hoffnung erwuchs, dies möge bei denjenigen, die nicht ermittelt werden konnten, ebenso der Fall sein. Sollte jemand unter den Inhabern der Autorenrechte Einwände haben, bitte ich darum, sich an mich zu wenden. Elisabeth Schneider Anhang Überblick über die erwähnten Haiku-Zeitschriften Akashiya „Scheinakazie“; 1945~ Ashibi „Besenstrauch“; 1931~ Banryoku „Sommerliches Grün“; 1946~ Bara „Rose“; 1952~ Dôhyô „Wegweiser“; 1951~ Dojô „Auf der Erde“; 1922~ Fue „Flöte“; 1946~ Haiku „Haiku“; 1952~ Haiku seikatsu „Haiku-Leben“; 1934~ Haisô „Haiku-Dickicht“; 1901~ Hama „Strand“; 1946~ Hiroba „Offener Platz“; 1938~ Hototogisu „[Berg-]Kuckuck“; 1897~ Izumi „Quell“; 1928~ Kabiya „Nächtliches Wachtfeuer“; 1921~ Kaikô „Meeresrot“; 1915~ Kanrai „Wintergewitter“; 1940~ Kareno „Herbstfeld“; 1921~ Katsuragi „Katsuragi“, benannt nach dem Berg Katsuragi no yama; 1929~ Kazahana „Verwehte Schneeflocken“; 1947~ Kaze „Wind“; 1946~ Keitôjin „Hahnenkamm-Feldzug“; 1929~ Kidachi „Holzschwert“, geht aus der Zeitschrift Uzue hervor; 1909~ Kikan „Flaggschiff“; 1935~ Kobushi „Kobusmagnolie“; 1924~ 197 Kokumin haidan „Haiku-Platform des Volkes“, regelmäßige Gedichtkolumne in der Zeitung Kokumin shimbun; 1896~ Komakusa „Doppelsporn“; 1932~ Ku to hyôron „Haiku-Vers und Kritik“; 1931~ Kyôdai haiku Haiku-Zeitschrift, die aus einer Haiku-Gruppe an der Universität Kyôto hervorging; 1933~ Kyokusui „Gewundener Wasserlauf“; 1916~ Natsukusa „Sommergras“; 1930~ Nihon haiku „Haiku Japans“, Kolumne in der Zeitung Nihon oyobi Nihonjin; 1907~ Raikô „Blitz“; 1948~ Riraza „Gilde der Lyra“; 1949~ Seigen „Blauer Himmel“; 1949~ Seisôken „Stratosphäre“, Organ der Oberschul-Haiku-Bewegung; gegründet 1937 Shakunage „Rhododendron“; 1915~ Shibugaki „Bittere Kaki“; 1915~ Shuntô „Licht in der Frühlingsnacht“; 1946~ Sôun „Wolkenbänder“; 1911~ Suimei „Sonnenlicht auf dem Wasser“; 1930~ Tamamo „Seetang“, Frauen-Haiku-Zeitschrift; 1930~ Tenrô „Sirius“; 1948~ Tsuru „Kraniche“; 1937~ Ummo „Glimmer“; 1915/1917~ Wakaba „Frisches Laub“; 1917/1928~ Yatôha „Nachträuber“; 1952~ Angegeben ist in der Regel nur das Gründungsjahr. Viele Zeitschriften erlebten in der Folge eine wechselhafte Geschichte, inklusive Einstellung, Verbot, Neugründung oder Überführung in ein anderes Organ. 198 Biographien der Übersetzer Oscar Benl (25.5.1914 in Nürnberg ~ 21.11.1986 in Hamburg) 1933 Jura-Studium in München und Hamburg, 1936 Referendarexamen in Hamburg. 1935–1936 Studium der Sinologie in Hamburg. 1935–1940 Studium der Klassischen japanischen Literatur an der Kaiserlichen Universität Tôkyô, intensive Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus. 1941–1945 Wissenschaftliche Hilfskraft bzw. Wissenschaftlicher Assistent bei Wilhelm Gundert (1880–1971) am Seminar für Sprache und Kultur Japans der Hansischen Universität, wo er 1947 über Das künstlerische Ideal Seami’s promoviert. 1941–1945 Militärdienst, u. a. als Wehrmachtsdolmetscher, ab 1944 an der deutschen Botschaft in Tôkyô. 1947 Rückkehr nach Deutschland. 1948 Habilitation für das Fach Japanologie an der Universität München über Die Entwicklung der japanischen Poetik bis zum 16. Jahrhundert; Wiederaufnahme der Assistententätigkeit an der Universität Hamburg. 1953 Ernennung zum Außerplanmäßigen, 1956 zum Ordentlichen Professor. Bis zu seiner Emeritierung 1983 als Ordinarius am Seminar für Sprache und Kultur Japans der Universität Hamburg tätig, dem er bis zuletzt als Lehrer und Forscher aufs Engste verbunden bleibt. Zeit seines Wirkens zahlreiche Übersetzungen sowohl der traditionellen Literatur Japans, darunter Yoshida Kenkôs Tsurezuregusa (Betrachtungen aus der Stille, dt. 1963), Ueda Akinari und Ihara Saikaku, vor allem aber das Monumentalwerk GenjiMonogatari. Die Geschichte vom Prinzen Genji, aber auch von Autoren wie Natsume Sôseki, Tayama Katai, Nagai Kafû, Shiga Naoya, Akutagawa Ryûnosuke, Kawabata Yasunari, Tanizaki Junichirô, Dazai Osamu, Inoue Yasushi oder Abe Kôbô, womit er dem deutschsprachigen Publikum einen neuartigen Einblick auch in die moderne japanische Literatur ermöglicht. Nachruf von Annelotte Piper: „Erinnerungen an Oscar Benl (1914–1986)“, in: Hefte für Ostasiatische Literatur, Nr. 6, 1987, S. 99–105; Bibliographie von Herbert Worm: „Schriftenverzeichnis Oscar Benl (1914–1986)“, in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (NOAG), Nr. 145/146, 1989, S. 87–107. 199 Géza S. Dombrády (10.2.1924 in Budapest ~ 6.2.2006 in Hamburg) Studium der Romanistik, Volkswirtschaft, Sinologie und Japanologie in München, 1956 Dissertation über Kobayashi Issas Mein Frühling (Ora ga haru, deutsch 1959 und 1983) bei seinem Lehrer Horst Hammitzsch. 1957–1965 Assistent bei Oscar Benl am Seminar für Sprache und Kultur Japans der Universität Hamburg; zu Schwerpunkten seiner Forschungsarbeit und Lehre werden intensive Studien der literarischen und geistesgeschichtlichen Tradition Japans, insbesondere der drei großen edo-zeitlichen Dichter Bashô, Buson und Issa. 1964 Habilitation über den rangaku-Gelehrten Watanabe Kazan (erschienen 1968). 1966 Übernahme eines japanologischen Lehrstuhls an der Universität Hamburg, daneben Lehraufträge am Ostasiatischen Seminar der Universität zu Köln. 1978 Übernahme des neu gegründeten japanologischen Lehrstuhls in Köln, den er bis zu seiner Emeritierung 1989 innehat. Umfangreiche Übersetzungsarbeiten mit ausführlichem Kommentar aus dem Bereich der haikai-Dichtung, neben Issas Mein Frühling und Die letzten Tage meines Vaters (Chichi no shûen nikki, deutsch 1985) eine umfangreiche Bearbeitung von Matsuo Bashôs Hauptwerk Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (Oku no hosomichi, deutsch 1985) und eine Anthologie der wichtigsten Gedichte Yosa Busons, Dichterlandschaften (1992). Intensive Beschäftigung mit der Schriftkultur Japans, Übersetzung theoretischer Texte zur japanischen Schriftkunst. Nachruf und Bibliographie von Jörg B. Quenzer, in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (NOAG), Nr. 181/182, 2007, S. 15–27. 200 Roland Schneider (12.10.1939 in Maffersdorf ~ 4.8.2007 in Hamburg) 1967 Dissertation über Sprache und Stil der mittelalterlichen Rezitationskunst der Kôwaka-mai bei seinen Lehrern Oscar Benl und Günther Wenck. Ab 1967 Assistent am Seminar für Sprache und Kultur Japans der Universität Hamburg. 1970–1975 japanologischer Lehrstuhl an der FU Berlin. 1975–1983 japanologischer Lehrstuhl an der Universität Tübingen. 1983 bis zu seiner Emeritierung 2005 in der Nachfolge Oscar Benls Ordinarius in Hamburg. Im Mittelpunkt seiner sprachund literaturwissenschaftlichen Forschungstätigkeit stehen ab Mitte der 1980er Jahre vor allem die „Gedichtwettstreite der Berufe“ (shokunin utaawase, dt. bei Harrassowitz, Wiesbaden 1995), im Rahmen breit angelegter Untersuchungen zur mittelalterlichen Sozial- und Kulturgeschichte. 1987 Gastprofessur am Nationalinstitut zur Erforschung der japanischen Literatur (Kokubungaku kenkyû shiryôkan) in Tôkyô. 1993 Gastprofessur am Collège de France in Paris, Verleihung der « Médaille d´Or ». 1997 Ehrendoktorwürde der Städtischen Universität Ôsaka, an der er 1991 eine Gastprofessur wahrgenommen hatte. Ab 1998 Mitherausgeber am Projekt der Übersetzung des „Buddhistischen Lexikons“ (Sôgô bukkyô daijiten), angesiedelt am Ekô-Haus der Japanischen Kultur, Düsseldorf. 2007 Auszeichnung mit dem japanischen „Orden der Aufgehenden Sonne mit Strahlen am Halsband“ für seine Verdienste als Lehrer, Forscher und Förderer der deutsch-japanischen Freundschaft. Nachruf und Bibliographie von Kay Genenz, in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (NOAG), Nr. 181/182, 2007, S. 31–43; Nachruf von Klaus Vollmer, in: Oriens Extremus (OE), Nr. 46, 2007, S. 10–15; Nachruf von Gregor Paul, in: Hôrin. Vergleichende Studien zu japanischen Kultur, Nr. 13, 2006, S. 9–11. 201